6. Kapitel

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Ich habe einmal ein Buch gelesen, indem gesagt wurde, dass nichts, das auf dieser verdammten Welt geschieht Zufall ist. Manche Menschen sagen, dass es Gott wäre, der die Fäden unserer Leben in seinen Händen hält, andere, dass es die Regierung wäre. Wenn man mich fragen würde, würde ich sagen, dass irgendein perverser Idiot, hier mit uns allen seine Spielchen spielt. Vielleicht sind wir ja alle nur Charaktere in einem Buch, und der Autor lässt uns wie seine Marionetten tanzen. Vielleicht werden unsere Lebensgeschichten aber auch durch die Nacht geflüstert, am Lagerfeuer erzählt, um die Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihr Leben nicht vergeuden sollen. Wir werden es wohl nie erfahren. Ob die Welt um uns herum real ist oder nicht. Das sind meine Theorien, wenn man mich fragen würde. Aber das tut keiner.

„Was machst du?", fragte ich Koa, als dieser seinen Köcher schulterte und sich in Bewegung setzte.

„Weiter gehen.", antwortete er nur, ohne mich anzusehen.

Mit einigen schnellen Schritten schloss ich zu ihm auf: „Weiter gehen? Wohin denn? Was ist mit meinen Antworten?"

Koa lachte leise und schüttelte den Kopf: „So viele Fragen, hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass Unwissen manchmal ein Segen ist? Du wirst deine Antworten schon kriegen, alles zu seiner Zeit."

Ich stöhnte genervt, er erinnerte mich für einen Moment stark an meinen gehassten Religionslehrer, Herrn Becker. Er hatte die Angewohnheit uns immer Kalendersprüche mit auf den Weg durch die Woche zu geben. Eigentlich wäre er ja ganz nett gewesen, wenn er mich nicht die drei Monate, die ich ihn gekannt hatte, immer sein verlorenes blutgetränktes Schäfchen genannt hätte. Ein sehr liebevoller Kosename, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Das blutig hatte ich meiner, zu dem Zeitpunkt, hennaroten Mähne zu verdanken. Jetzt waren sie einfach Kupfer farbend.

„Bist du immer so...ähm...philosophisch?"

„Nö.", erwiderte Koa mit einem frechen Grinsen.

Ich erwartete, dass er fortfuhr, doch das geschah nicht. Also beschloss ich trotz seiner seltsamen Aussage weiter zu bohren. Segen gab es nicht, auch wenn meine Mutter da einer ganz anderen Meinung war.

„Kannst du mir denn ungefähr sagen, wann die Zeit ist?", fragte ich unschuldig.

Stumm schüttelte er den Kopf, während ich mir hinter seinem Rücken die Haare raufte. Ich wollte gerade Luft holen, um zu meiner nächsten Frage anzusetzen, da drehte er sich um und brachte mich somit zum inne halten.

„Nein, ich kann dir auch nicht sagen, wohin wir gehen. Warum nicht? Weil ich kein Ziel habe. Weil es hier kein Ziel gibt! Wir können in dem System leben, aber wenn du dich gegen es wendest, ist deine einzige Chance zu überleben hier draußen, verstanden?", zischte Koa.

Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach, nickte ich. Es erschien mir die sinnvollste Variante, seine plötzliche Wut zu zügeln. Er blickte mich noch einige Sekunden, die mir unter seinem prüfenden Blick wie Jahrzehnte vorkamen, dann glättete sich seine Mienen wieder.

„Dann is' ja gut.", sagte Koa besänftigt.

Ich nickte erneut, dann setzten wir uns wieder in Bewegung und kämpften uns durch das scheinbar ewig grün des Waldes.

Ich fragte nicht, was er mit „Hier" meinte. Sagte nicht, dass ich keine Ahnung hatte, von was für einem System er sprach, sondern folgte ihm nur. Koa war momentan meine einzige Chance auf Antworten und inzwischen war ich mir nicht mehr sicher, ob das ganze hier nur ein grausamer Scherz war. Vielleicht lief hier etwas viel größeres, als ich angenommen hatte, vielleicht wurde ich auch einfach nur verrückt.

Oder...

Oder ich war...tot.

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