Wie hatte ich nur jemals denken können, dass die rote Tönung des Himmels und der Wolken schön sein konnte? Inzwischen erinnerten mich die Wolken eher an Wattebauschen getränkt in Blut. Blut von Unschuldigen. Ein Massaker. Sowohl auf dem Bildschirm, als auch hier. Soviel Blut. Erneut würgte ich, doch es gab nichts mehr, das ich hätte erbrechen können.
Castor beobachtete mich besorgt.
„Es geht schon.", brachte ich zwischen zwei erneuten Würganfällen hervor. Tote. Immer wenn ich meine Augen schloss sah ich ihre Leichen, ich hörte ihre Schreie. Die Schreie der Mutter auf dem Marktplatz, sie war umgekommen, weil sie die Hinrichtung ihrer eigenen Tochter nicht verkraften konnte. Wer könnte das auch? Wie konnte nur jemand so grausam sein? Ich sah immer noch ihr Blut auf mich zufließen, von dem mein Schuh jetzt steif war. Erneut würgte ich. Tränen liefen mir die Wangen herab. Warum hatte denn niemand etwas getan?
Hatten sie alle Angst vor dem Tod? Doch konnte der Tod schlimmer sein als dies?
Vorsichtig richtete ich mich wieder auf und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund, während ich Castors Blick festhielt.
„Wir müssen sie töten.", meine Stimme war rau und emotionslos.
Castor regte sich nicht. Nach einigen Sekunden zogen sich seine Augenbrauen zusammen.
„Wen?", fragte er misstrauisch.
„Die Konsulin.", entgegnete ich.
Seine Augen weiteten sich einen Moment, ehe er zu Lachen begann. Doch genauso schnell wie er angefangen hörte er auch wieder auf.
„Vergiss es.", gab er streng zurück.
„Aber wenn wir Lou befreien, sind wir doch sowieso schon quasi bei ihr, dann müssten wir nur noch ein ganz kleines bisschen näh-"
„Vergiss es. Es wird schon schwer genug die Befreiungsaktion deiner Schwester zu überleben und selbst wenn wir nahe genug an die Konsulin heran kommen könnten und falls wir es tatsächlich schaffen würden sie zu töten, würden wir dabei selbst umkommen. Du versuchst grad mit nichts, einen Plan für die Ermordung eines Staatsoberhauptes zu planen...schlag es dir aus dem Kopf.", rügte er mich.
Trotzig erhob ich mein Kinn und funkelte ihn wütend an: „Aber es muss sie doch jemand stoppen, sie lässt Unschuldige ermorden, dass weiß jeder, warum unternimmt denn niemand etwas? Warum sollten wir denn getötet werden, wenn wir alle von ihr befreien würden?"
„Weil es wirklich Menschen sind, die glauben dass sie recht hat, dass sie das Richtige tut und sich alle vor diesen Leuten fürchten, sie fürchten nicht nur um sich sondern auch um alle die sie lieben und natürlich wissen sie, dass die Hingerichteten unschuldig sind, aber sie befürchten, dass sie oder ihre Kinder oder ihre Eltern die nächsten sind, die sterben, wenn sie ihre Stimme erheben."
„Bullshit."
„Nein, so ist es, vergiss es, Rebecca. Du kannst nicht hier her kommen, und wie schon gesagt, mit nichts, mit keinem Plan, keiner Idee, mit noch nicht mal einer Übersicht über die gesamte Situation, hier her kommen und beschließen jemanden zu ermorden. Ich verstehe, dass du verstört bist, das bin ich auch, aber das kannst du nicht machen. Verstehst du?"
Nein, ich verstand nicht.
Ich verstand nicht, wie Castor so ruhig bleiben könnte nach dem was da grad passiert war.
Und außerdem verstand ich auch nicht, warum niemand etwas gegen die Konsulin unternahm, auch wenn Castor es mir in einfachen Worten zu erklären versucht hatte.
Vielleicht wollte ich es auch gar nicht verstehen.
„Aber wenn sie nichts tun, dann ist doch die Gefahr, dass ihnen etwas passiert viel grö-", versuchte ich ihn von meiner Meinung zu überzeugen, doch Castor unterbrach mich:
„Du verstehst es nicht, oder?", er lachte auf, doch es war kein fröhliches Lachen.
„Nein, tu ich nicht! Und ich will es vielleicht auch gar nicht verstehen. Wie können diese Leute so leben, das ist doch kein Leben!", rief ich.
„Aber wenigstens haben sie ein Leben, wenigstens sind sie am Leben. Und solange es keine Aufstände oder so was gibt, dann passiert den Leuten auch nicht, meistens zumindest."
„Meistens? Waren diese Leute, die heute da hingerichtet worden sind, denen wir beim sterben zugesehen haben, nicht Unschuldige, hast du mir das nicht gesagt? Wie kannst du so ruhig bleiben? Wir haben Menschen beim Sterben zugesehen. Und wir haben nichts unternommen, weder du noch ich, noch sonst irgendwer, außer die Frau."
Mir wurde wieder übel und ich lehnte mich gegen einen Baum. Ich riss mir die Mütze vom Kopf und meine Haare fielen mir in roten Locken über Rücken und Schultern. Wütend knauschte ich den Stoff in meinen Händen zusammen. Schwer atmend sah ich Castor an.
„Und sie hat mit ihrem Leben dafür bezahlt!", warf Castor ebenso wütend ein.
Wir standen einander gegenüber und funkelten uns böse an.
Ein paarmal atmete ich tief ein und aus, um meine Beherrschung wiederzuerlangen, ehe ich langsam und ruhig zu sprechen begann: „Wenn wir nichts tun, dann klebt Blut an unseren Händen. Es klebt jetzt schon Blut an ihnen. An dir und an mir. Wortwörtlich."
Castor hält meinem Blick stand, die Luft zwischen uns schien förmlich zu knistern. Ich trat einen Schritt nach vorne, sodass nur noch etwa dreißig Zentimeter trennten und reckte mein Kinn trotzig in die Luft.
Mein Gegenüber starrte mich bloß an. Und da war er wieder, dieser berechnender Ausdruck in seinen Augen, ich verschränkte die Arme. Wir standen einfach nur da und starrten einander an, ein stummes Machtringen, von dem ich nicht wusste, wer am gewinnen war. War mir nie sicher gewesen, vielleicht gab es auch gar keinen Gewinner.
Castor beugte sich ein Stück zu mir hinunter, auch er verschränkte seine Arme, es sah aus, als würde er mich imitieren. Auf einmal veränderte sich etwas in seinem Blick, doch er drehte sich plötzlich weg und ich konnte den Ausdruck nicht deuten.
„Setz dir deine Mütze wieder auf. Wir laufen weiter und sollten was zu essen finden.", sagte er mit zu mir gekehrten Rücken.
Ich rührte mich nicht vom Fleck. Hielt immer noch verkrampft die Mütze fest. Castor drehte sich um.
„Setz die Mütze auf."
Ich bewegte mich immer noch nicht. Castor griff nach der Mütze und setzte sie mir auf. Eine Strähne blieb mir im Gesicht hängen, er strich sie unter die Mütze und ließ seine Hand länger als nötig an meiner Wange liegen.
Wieder bewegte sich niemand von uns. Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Gleichzeitig rasten mir gefühlte tausend Gedanken durch den Kopf. Einer von ihnen war: Geht es ihm genauso?
Doch im nächsten Moment trat ich einen Schritt zurück, Castors Hand fiel herab und der Bann war gebrochen.
„Wir sollten gehen." Ich wandte mich um und fragte mich noch im selben Moment warum ich das getan hatte.

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Spiegelwelt
Ciencia FicciónStell dir vor, deine Schwester verschwand vor sechs Jahren. Stell dir vor, du wünscht dir nichts sehnlicher, als sie wieder zurück zu haben. Stell dir vor, du begibst dich in dasselbe Haus in dem sie damals verschwand. Stell dir vor, dort passiere...