28. Kapitel

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Heute war es endlich so weit. Eine fast euphorische Stimmung hatte von mir Besitz ergriffen, die vermutlich von der Verheißung eines warmen Bettes herrührte. Und vermutlich auch der andauernden unangenehmen Situation mit Castor für geringe Zeit entfliehen zu können. Auch wenn es nur für eine Stunde sein sollte. Er schwieg eisern, teilte mir noch nicht einmal mehr Aufgaben zu und mied meinen Blick als sei ich Medusa.

Vermutlich sahen meine Haare inzwischen auch so aus, eine Bürste hatten sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ganz zu schweigen von Shampoo.

Allerdings hatte ich auch Sorge wieder in ein Dorf zu gehen. Der Schrecken des letzten Males saß mir noch in den Knochen. Und dort würde er wohl auch bleiben. Mich schauderte es, bei dem Gedanken an die Hinrichtung. Ich musste nicht auf meine Schuhe sehen, um das Muster, das das Blut auf sie gemalt hatte zu sehen. Es hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt und verfolgte mich bis in meine unruhigen Träume.

Und sollten wir wieder Zeugen einer solchen Gräueltat werden war ich mir sicher, dass Castor diesmal nicht meine Hand halten würde. Dieses Mal würde ich es allein durchstehen müssen. Doch auch das würde ich schaffen. Ich hatte schon so vieles selbst überstanden, ohne Hilfe, ohne jemanden an den ich mich hätte klammern können.

Ich schloss meine Augen und erlaubte mir einen Moment zu träumen. Mir auszumalen, was geschehen würde, wenn ich Lou gefunden und nach Hause gebracht hatte. Wenn wir es beide allein und doch gemeinsam überstanden hatten. Wie unser Haus wieder ein Zuhause werden würde. Wie unsere tiefen Wunden würden heilen können. Wie aus meiner Mutter, meinem Vater und mir wieder eine richtige Familie werden würde, mit Lou, die nicht mehr als namenloser Geist zwischen uns stand, sondern uns als Kleister zusammenhielt. Wie wir gemeinsam Fotos und unsere Bilder wieder aufhängen würden. Wie diese gähnende Leere in meinem Inneren auf einmal ausgefüllt sein würde.

Ich lächelte selig. Diese Vorstellungen waren fast zu schön um wahr zu sein. Vor ein paar Wochen schienen sie noch wie Hirngespinste, doch nun nahmen sie langsam Form an, rückten mit jedem Schritt weiter in greifbare Nähe.

Doch mein Tagträumen nahm ein jähes Ende, als ich gegen Castors Rücken lief. Verächtlich blickte er mich kurz über seine Schulter hinweg an. Ich zuckte die Achseln. Wenigstens sah er mich wieder an. Castor bewegte sich nicht, ich tat es ihm gleich, da ich erwartete, dass im nächsten Moment den leisen Motorenlärm von ihnen zu hören. Doch nichts geschah. Also schob ich mich an Castor vorbei, als ich sah, was sich gut dreißig Meter entfernt auf einer Lichtung befand runzelte ich verwirrt die Stirn.

„Ich dachte, wir würden heute ein Dorf erreichen?", fragte ich, während ich das Zeltlager auf der Lichtung kritisch betrachtete. Das Ganze erinnerte mich stark an ein Lager aus einem Ritterfilm. Fast erwartete ich einen Ritter aus einem der Ausgänge austauchen zu sehen. Doch ich wartete vergebens. Inmitten der Leinenzelte war ein großes Lagerfeuer entfacht worden, um dieses waren kreisförmig Holzstämme angeordnet, auf denen einige Leute faulenzten. Ihre Kleidung glich der, die die Menschen im letzten Dorf trugen, ebenso wie die von Castor und nun auch meine. Doch nirgends konnte ich einen Bildschirm entdeckten. Erleichterung durchflutete mich.

„Es ist ein Lager. Ist es der Prinzessin etwa nicht gut genug?", fauchte Castor, während er mich anrempelte und an mir vorbei auf die Zelte zu stampfte. Erst beim Näherkommen konnte man eine freie Fläche sehen, auf der reges Treiben herrschte. Einige Frauen nähten, während andere kochten. Kinder spielten Fußball mit einem braunen Lederball und Männer nahmen ihre Beute aus.

Als wir die ersten Zelte passierten, legten sie ihre Arbeit nieder und betrachteten uns misstrauisch. Auch die Kinder hörten auf herumzutollen und suchten die Nähe ihrer Eltern.

Castor blieb einige Meter von ihnen entfernt stehen. Ich tat es ihm gleich und hielt den Blicken der Menschen stand. Stille senkte sich wie eine Decke über das Lager. Jemand hustete. Weiteres Starren. Ich betrachtete die Menschen, die dicht zusammengedrängt dastanden und erkannte Angst in manchen Augen.

„Wovor haben sie Angst?", flüsterte ich Castor zu und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

Castor schnaubte nur: „Sieh dich an." Er sah mich dabei noch nicht einmal an.

Ich schnappte empört nach Luft. Wiederstand allerdings dem Drang ihm eine zu verpassen. Uns wurde immer noch dir ganze Aufmerksamkeit des Lagers zu teil.

Weitere Augenblicke verstrichen ohne das etwas geschah. Wie die Bewohner des Lagers so verschreckt vor uns verharrten erinnerten sie mich an Rehe im Scheinwerferlicht eines Autos.

In der Hoffnung nicht mehr ganz so erschreckend zu wirken, zog ich meine Kapuze vom Kopf und setzte meine Mütze ab. Mir war es herzlich egal, wie meine Haare gerade aussahen, vielleicht hatte ich ja sogar Glück und jemand empfand Mitleid mit mir, sodass er mir der Luxus einer Bürste zu teil werden würde. Jedoch bezweifelte ich, dass wirklich ich der Grund für ihre Angst war und nicht etwa Castor, der sie finster anblickte

Ich wrang die Mütze in den Händen und machte unsicher einen Schritt auf die kleine Gruppe vor mir zu, nahm all meinen Mut zusammen und würgte hervor: „Ähm, Hi. Ich bin-"

„Rebecca?!"

Ich zuckte zusammen, diese Stimme kannte ich. Ichhörte einen dumpfen Aufprall als etwas zu Boden geworfen wurde und im nächstenMoment zog mich die Person in ihre Arme


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