18. Kapitel

38 6 7
                                    


Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir einst einen Ausflug in einen Nationalpark gemacht hatten. Als Louise noch bei uns war, natürlich. An den Namen kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt gewesen, dass Sonnenlicht hatte helle Muster auf den Waldboden gemalt, als es durch das Blätterdach gefallen war. Ich konnte Louises Lachen hören. Ich sah zu ihr hoch und ihre roten Haaren hoben sich deutlich vom Grün der Blätter ab. Wir hatten beide kleine Rucksäcke bei uns. In meinem war kaum etwas drin, eine verwaiste Packung Taschentücher und ein paar Pflaster, mehr nicht, trotzdem hatte ich unbedingt den Rucksack mitnehmen wollen. Ich hatte dazugehören wollen.

„Komm.", hatte Louise bloß mit einem Grinsen gesagt und war losgerannt. Ich war ihr gefolgt. Zu jeder zeit wäre ich ihr blind gefolgt. Louise war immer so schnell gelaufen, dass ich mit ihr hatte mithalten können. Wir kamen zu einem kleinen Bachlauf über dem ein Baumstamm lag. Das Sonnenlicht brach sich glitzernd im plätschernden Wasser. Todesmutig setzte Louise den Fuß auf das Holz und balancierte einige Schritte. Sie schaute über die Schulter und streckte mir eine Hand entgegen. Ich schaute zuerst ihre Hand an, dann das Wasserrinnsal unter ihr. Mein Kopf bewegte sich wie von selbst von einer zur anderen Seite. Das ganze war mir nicht geheuer.

„Hab keine Angst.", flüsterte Louise mir aufmunternd zu und streckte weiter die Hand nach mir aus. Ich nahm all meinen Mut zusammen und griff nach ihrer Hand. „Ich hab dich, alles ist gut."

***

Doch als ich die Augen aufschlug war Louise nicht da. Ich lachte auf und erschrak selbst wie verbittert es klang. Castor drehte sich zu mir um: „Alles in Ordnung?"

„Ja, natürlich."

„Das glaub ich dir nicht." Ohne stehen zu bleiben, betrachtete er mich. Berechnend.

Wie sehr ich diesen Ausdruck hasste. Und vielleicht brachte dieser eine Blick das Fass zum Überlaufen, das sich damit angefüllt hatte, dass die Erinnerungen an meine Schwester immer realer wirkten oder dass mein Schuh von Blut erstarrt war oder dass ich inzwischen vor mir selbst erschrak, weil ich jemanden ohne zu zögern töten würde.

„Hör auf mich so anzusehen!", fauchte ich Castor an.

Dieser legte die Stirn in Falten. „Wie denn?"

„So berechnend! Als würdest du mich durchschauen, als würdest du alles und jeden durchschauen und analysieren und abwägen und was weiß ich nicht noch alles!"

Castor schwieg und ließ sich von mir mit wütenden Blicken attackieren. Der Wind bewegte die Blätter, lies sie rascheln und so klingen, als würden sie flüstern. Als würden sie das Geschehen kommentieren.

„Typen wie du machen Menschen wie mir das Leben schwer!", zischte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Das nahm mein Gegenüber nicht einfach so hin: „Ach ja? Was für eine Art Typ bin ich denn? Was tun wir denn so grausames?"

Seine Stimme klang tief, bedrohlich, verärgert.

„Typen wie du halten sich für etwas Besseres. Ihr betrachtet die Menschen um euch herum und denkt ihr wüsstet alles über sie. Ihr betrachtet sie und denkt, ihr könnt sagen, was sie als nächstes tun. Als hättet ihr eine gewisse Macht über sie. Das gefällt euch, nicht? Macht zu haben ist toll! Und eigentlich seid ihr noch viel schlimmer, als diese reichen verwöhnten Schnepfen, die denken, dass sie aufgrund ihrer Herkunft etwas Besseres sind als du.

Und obwohl ich auch bei denen schon das blanke Kotzen kriege, kann ich es minimal, wirklich nur minimal, verstehen. Sie haben ja wenigstens etwas, dass ich nicht habe und durch ihr Geld haben sie Freundinnen, die ihnen hinterherlaufen wie kleine Schoßhündchen und Verehrer und sie sind beliebt und was weiß ich nicht noch alles.

Aber du! Ihr! Ihr seid weder beliebt noch sonst irgendetwas. Ihr seid wie jeder andere Schüler und doch, nur durch eure Blicke, diese berechnenden Blicke, die irgendwann, wenn sie nicht aufhören, nicht nur euch das Gefühl von Macht geben, sondern auch den Leuten mit denen ihr sie bedenkt, das Gefühl gebt, dass ihr Macht über sie habt. Ihr müsst nichts sagen, nichts tun, bloß gucken

. Und für Leute, die neu irgendwo sind, sind Leute wie du das Schlimmste. Ich hatte häufig kein großes Selbstbewusstsein, wenn ich an neue Schulen gekommen bin. Irgendwann habe ich es einfach aufgegeben. Bin mit gesenktem Kopf durch die Flure gegangen. Mich bemerkte niemand, zu unscheinbar, zu plötzlich aufgetaucht und zu plötzlich wieder verschwunden, um Aufsehen zu erregen. Nicht von der Masse wahrgenommen zu werden war gut, meistens zumindest, denn dann konnte sie keinen Druck auf mich ausüben, hatten keine Macht über mich. Außer diese Menschen, die stille Teile der Masse waren und trotzdem Macht auf mich ausübten.

Die Menschen, die mich schließlich den Kopf senken, die Schulter hochziehen und nur noch ein kleines Stück Linoleum Fußboden sehen ließen, einfach weil ich Angst hatte, dass diese Menschen so viel grausamer waren, als die Zicken und die Quarterbacks. Das sie schlauer waren und es für mich einfach besser wäre den Blick zu senken und mich von ihnen in die Knie zwingen zu lassen.

Weißt du was das für ein Gefühl ist? Diese Erleichterung, wenn du es über den Flur an ihnen vorbei ins sichere Klassenzimmer geschafft hast? Ohne das etwas passiert ist? Und wie endlos dir der schutzlose Flur vorkommt? Wie in einem Albtraum, du gehst und gehst, kannst nicht laufen, deine Füße sind zu schwer und es würde zu viel Aufmerksamkeit erregen.

Es ist als wärst du in ein Kaugummi getreten und deine Füße würden sich nur unter großer Anstrengung und mit langen Fäden vom Boden lösen. Und du weißt, dass du jeden Tag wieder an ihnen vorbei musst."

Castor starrte mich bloß an. Dann begann er mit dem Kiefer zu mahlen. Schwer atmend stand ich vor ihm.

„Du denkst also-", seine Stimme war nicht mehr als ein Knurren, als er nach gefühlten Stunden wieder zu sprechen begann. Seine Augen schienen zu glühen während sie mich fokussierten und sich in mir der Drang breitmachte, wieder die Schulter hochzuziehen und den Blick abzuwenden.

Doch ich tat es nicht. Ich straffte die Schultern, hob mein Kinn und starrte zurück. Ich war stärker geworden. Er würde mich nicht einschüchtern. Ich hatte das alles hinter mir gelassen und er würde jetzt ganz sicher nicht meinen kleinen errichteten Schutzwall durchbrechen. So nicht.

Nicht.

Mit.

Mir.

Castor holte tief Luft bevor er weitersprach, doch es nutzte nicht sonderlich viel.

„Du denkst also, ich wäre wie einer von denen? Dir ist schon klar, dass ich seit vier verdammten Jahren hier festsitze? Und dass du mich damit verurteilst und selbst denkst alles über mich zu wissen. Genau wie die, die dich armes kleines Ding angeguckt haben? Wirklich, deine Geschichte hat mich sehr berührt. Diese bösen, bösen Mitschüler, sie haben dich angesehen, na, wenn das nicht grausam ist. Was willst du für deine Geschichte? Mitleid?

Woher willst du wissen, dass ich nicht dasselbe durchgemacht habe? Das haben tausende von Jugendlichen! Aber dich hat es zerstört, ich kann es mir schon vorstellen. Und soll ich dir mal sagen, warum ich dich so anschaue, weil ich mir nicht bloß einbilde, zu wissen, was du als nächstes tust, nein, ich weiß es wirklich.

Denn du bist gar nicht so schwer zu durchschauen Rebecca, Überraschung. Ja, jetzt schaust du blöd. Aber ihr Mädels bildet euch ja eh immer ein, dass ihr etwas so Besonderes seid, so schwer zu durchschauen, alle anders. Das ist verdammte Einbildung, sieh es ein!"

Schwer atmend stand nun auch er vor mir und wir fochten mal wieder eins unserer stummen Gefechte aus.

Irgendwann hob ich ganz langsam denn Mittelfinger. „Fick dich."

„Lieber als von dir.", sagte er bloß und ging weiter, als wäre nichts passiert. Mich ließ er mit offenem Mund stehen.

Spiegelwelt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt