22. Kapitel

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Sie hatte das Foto einfach verrissen. Lous Gesicht fiel in zwei Hälften zu Boden, während mein Herz sich zusammen krampfte. Dieses Foto ich brauchte es, es war meine einzige Chance Louise zu finden.

Das Einzige Bild das ich von ihr besaß, nachdem unsere Mutter die Restlichen irgendwohin gesperrt hatte. Um ihr Gesicht nicht jeden Tag an den Wänden hängen sehen zu müssen. Als hätte sich ihr Gesicht nicht in jedes unserer Gehirne unauslöschbar gebrannt und als würde es einen Unterschied machen, ob nun Bilder von ihr an den Wänden hingen oder nicht. Ich wusste, dass Mama genau wie ich an jedem Tag an sie dachte, genauso wie Papa. Jedoch verstand ich nicht, warum sie diese Fotos von ihr abgehängt hatte, vielleicht war es so einfacher für sie.

Doch hatte Lou es nicht verdient, dass ihre Fotos weiterhin an unserer Wand hingen? Das man sich jeden Tag ganz, ganz sicher an sie erinnerte, auch wenn es weh tat? Und dass Menschen, die zu Besuch waren fragten wer denn dieses Mädchen auf den Fotos sei? Egal wie schlimm das für uns war? Hatte sie das nicht verdient? Oder hatte meine Mutter richtig gehandelt, um uns vor diesem Schmerz zu beschützen?

Und warum dachte ich erst jetzt darüber nach, wo es doch eigentlich schon zu spät war?

Meine mörderischen Blicke bohrten ich in den Rücken der Nixe, doch entweder bemerkte sie diese erst gar nicht oder sie waren ihr egal, denn sie zerrte mich stur weiter durch die Gänge in eine ungewisse Zukunft. Am liebsten hätte ich geschrien und ihr eine reingehauen. Mehrfach. Doch ich tat es nicht, denn ich hatte Hoffnung. Einen Hauch von Hoffnung, dass das ganze doch noch gut ausgehen könnte. Falls sie mich jetzt direkt in die Küche zum Schlachten führte, könnte ich ihr immer noch eine reinhauen.

Ihr ziehen an meinen Haaren brachte mich zurück ins Hier und Jetzt.

"Geht's noch doller?", knurrte ich.

Ihre Antwort darauf lies mir die Tränen in die Augen steigen. "Hör auf zu heulen.", befahl sie mir abfällig über die Schulter hinweg. Sie zog mich um die nächste Ecke und lies von meinen Haaren ab, dafür nahm sie allerdings mein Gesicht in eine Hand und quetschte meine Wangen zusammen. Herablassend betrachtete sie mich, ehe sie zu sprechen begann: "Du wirst jetzt den Kopf gesenkt halten und es nicht wagen sie anzusprechen. Antworte, wenn sie dich etwas fragt. Verstanden?" 

Ich schaute meine Gegenüber nur an. Sie, etwa die Konsulin? Würde ich sie sehen? Ihr gegenüber stehen? War ich gar nicht so weit entfernt von Lou wie gedacht?

"Die Konsulin?", fragte ich, obwohl ich versucht hatte mich zurückzuhalten.

Die Nixe lachte selbstgefällig und lies angewidert von meinem Gesicht ab. "Die Konsulin? Du bist ja noch dümmer als du aussiehst."

Ich werde sie schlagen.

"Die Konsulin wäre niemals hier unten, du Vergeudung an Sauerstoff."

Ganz sicher werde ich es tun.

Aber vielleicht sollte ich damit noch ein wenig Geduld haben, ein wenig.

"Wer ist es denn?", knurrte ich.

"Die Fürstin.", die Stimme der Nixe nahm einen ehrfürchtigen Klang an, als sie dies sagte.

Ich runzelte skeptisch die Stirn: "Eine Fürstin? Ah ja, ihr habt es hier nicht so mit richtigen Namen, oder?"

Als Antwort wurde mal wieder an meinen Haaren gezogen. "Sei nicht so respektlos, wenn du von ihr sprichst! Sie ist immerhin die Fürstin. Die Fürstin braucht keinen weiteren Namen!", rügte mich die Nixe.

Dies schien die längste zusammenhängende jemals, zumindest die zehn Minuten, die ich sie schon kannte, geführte Unterhaltung zwischen uns beiden zu werden.

"Sie war also schon immer die Fürstin, so ist sie also schon auf die Welt gekommen, oder wie?", ich konnte den Spott nicht aus meiner Stimme verbannen, auch wenn ich wusste, dass es besser für mich wäre.

Zorn flammte in den Augen meines Gegenübers auf. Ich machte mich innerlich schon auf eine Ohrfeige gefasst, die jedoch ausblieb.

"Die Fürstin braucht keinen anderen Namen, weil sie schon seit Anbeginn unserer Zeit unsere Anführerin ist und es auch bleiben wird.", stieß sie sichtlich beherrscht zwischen den Zähnen hervor.

Ich blinzelte sie an. Ich witterte eine Chance wenigstens irgendetwas herauszufinden. "Und was ist mit der Konsulin?", fragte ich mit gespielter Verwirrung.

"Was soll mit ihr sein?", antwortete die Nixe mit immer noch bebender Stimme.

"Hat sie einen Namen?" Ich neigte den Kopf zur Seite, Gott sei Dank hatte sie meine Haare losgelassen.

"Natürlich, du dummer Menschling. Sie ist eine Sterbliche. Eine beeindruckende, aber immer noch sterblich. Ihr Sterblichen habt doch alle einen Namen. Sie schnaubte, es sei es etwas ganz Normales, dass wir Sterblichen Namen hatten und Unsterbliche nicht. Hieß das etwa, dass sie Unsterblich war?

Ich stellte meine Frage. Inzwischen schien sie ganz vergessen zu haben, dass sie mich eigentlich zu ihrer Fürstin hatte bringen wollen, so versunken war sie darin mich als Dumme darzustellen.

Sie verdrehte die Augen. "Natürlich sind wir unsterblich. Wie sollten wir sonst seit Anbeginn der Zeit da sein?"

"Indem eure Art seitdem besteht?", warf ich ein und erhielt dafür einen mörderischen Blick.

Ich vergaß, kritikfähig war sie nicht.

"Heißt dass ihr seid unverwundbar?"

"Wären wir unverwundbar würden wir nicht in diesen Baracken hausen?"

Stutzend sah ich mich um und nickte zustimmend.

Sie gab einen fauchenden Laut von sich: "Sprich nicht so von meinem Heim!"

Okay...ich blinzelte sie erneut an.

In der plötzlichen Stille schien sie sich wieder an ihre Aufgabe erinnert zu haben. "Erinnert sie dein Erbsenhirn noch an die Anweisungen, die ich dir gab?"

Ich starrte sie böse an, zwang mich jedoch zu einem Nicken, denn das Brennen auf meinem Kopf wurde langsam erträglich. 

Sie sah mich noch einmal prüfend an, ehe sie sich gegen eine große Tür stemmte, die sich quietschend öffnete. Die Nixe packte mich am Arm und zerrte mich hinter sich her. Ich hielt den Kopf gesenkt, so wie es mir gesagt worden war. Wenn die Chance auf einen anderen Ausweg bestand, musste ich es ja nicht darauf anlegen als Fischfutter zu enden.

Der Boden unter meinen Füßen knirschte, da er aus kleinen Muscheln bestand. Ein goldenes Schimmern erfüllte den Raum. Meine Wärterin versetzte mir einen Stoß, der mich zu Boden warf. Die Muscheln schnitten schmerzhaft in meine Knie und Hände, doch ich wagte es nicht mich zu bewegen.

Ein seltsames Geräusch ertönte, erst nach einigen Sekunden begriff ich, dass es die Nixe neben mir war, die sprach. Es waren Klänge, die ich noch nie zuvor gehört hatte.

Stille.

Dann wurde das Wort an mich gewandt. 

"Sie mich an!", befahl mir die Fürstin.

Langsam hob ich den Kopf und erstarrte bei dem Anblick, der sich mir bot.



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