XXIII

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Eric war seit kurz nach elf weg und hatte sich seitdem auch nicht mehr blicken lassen. Unzählige Gedanken durchströmten mich und ich ließ die Geschehnisse wieder und wieder in meinem Kopf abspielen, wie ein Lied in Dauerschleife.

Jedenfalls war es bereits kurz nach sechs und es gab immer noch keine Spur von Eric. Wie auch immer, ich hatte in diesen letzten fünf Stunden die verschiedensten Gefühle erlebt.
Zuerst fühlte ich eine gewisse Trauer, weil ich ihn nicht aufhalten konnte. Ich war traurig, weil er mir nicht vertraute.
Bei diesem Gedanken spielte eine krankhafte Eifersucht auch eine kleine Rolle, denn ich konnte nicht gegen die Vorstellung, dass er anderen Leuten schon von seinen Problemen erzählte, mir aber nicht.

Diese Tatsache, machte mich zugleich rasend und erfüllte mich mit brennender Wut, da ich ihm so viel gesagt hatte, er aber sich zu gut fühlte, um mit mir darüber zu sprechen.

Und für meinen Egoismus, weil ich nur an mich dachte, schämte ich mich. Ich verspürte Scham, da ich selbstsüchtig und zu neugierig war.

Im weiteren Verlauf des Gefühlschaos plagten mich unfassbare Schuldgefühle. Vielleicht ging es ihm wirklich grottig und ich stocherte immer weiter und weiter in eventuellen Wunden rum und riss sie wieder ganz auf.

Schließlich überkam mich eine schmerzhafte Sorge um Eric, weil ich befürchtete, dass er etwas Dummes tun könnte, ohne mit dem Köpfchen dabei zu sein.

Als letztes war eine panische Angst im inneren von mir versteckt, weil ich mich davor fürchtete Eric in die Augen zu schauen und Hass zu erkennen.

So hatte ich in den letzten fünf Stunden, sieben völlig gegensätzliche Gefühle durchlebt und war am Ende meiner Kräfte. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich mir gar nicht bewusst, dass so viele verschiedene Gefühle von einem Besitz ergreifen konnten in einer geringen Zeitspanne.
Träge stieg ich aus dem Bett, in dem ich die letzten Stunden über das, was geschehen ist, nachgedacht hatte.

Dann entschied ich mich zum Mittagessen zu gehen und schleppte mich energielos in den großen Essenssaal, wo man sich an einem warmen Buffet vergnügen konnte. Obwohl der Reis, die Fleischbällchen in Tomatensauce und der frische Salat auf meinem Teller herrlich schmeckten und ich von so einer vielfältigen und ausgebreiteten Auswahl sonst nur träumen konnte, schluckte ich jeden Bissen nur mit großer Mühe herunter.

Meine Gedanken schweiften immer wieder zu heute Morgen zurück und in derselben Sekunde verging mir der Appetit. Doch wollte ich nichts von meinem Teller wegschmeißen, weil ich genau wusste, wie viel dieses Essen den Menschen aus meinem Viertel bedeuten würde. Hätte ich auch nur einen Krümel auf dem Porzellan liegen gelassen, hätten mich tierische Schuldgefühle heimgesucht. Deswegen zwang ich mich den ganzen Haufen vor meiner Nase brav aufzuessen. Zudem ermahnte ich mich selber, dass ich auch weniger auf meinen Teller hätte schmeißen können, aber es sah halt alles so lecker aus und meine Augen waren in diesem Paradies größer als mein kleiner Magen.

Danach kehrte ich wieder in das Zimmer zurück und wie erwartet, gab es immer noch kein Zeichen von Eric.
Ich klaute Erics Laptop und ging die Präsentation ein paar Male durch, bis ich sie nahezu auswendig konnte.

Danach schmiss ich mich wieder schlaff auf das weiche Bett und langweilte mich zu Tode. Ich fragte mich zum gefühlt tausendsten Mal, wo Eric war und was er machte. Er war einfach abgehauen, anstatt mit mir zu reden. Und nun war es mittlerweile sieben Uhr und er war immer noch verschwunden.

Dieses Verhalten nannte ich mal kindisch, er ergriff einfach die Flucht. Dieser Feigling! Je mehr ich über sein Benehmen nachdachte, desto mehr regte ich mich auf, bis ich mich einfach dazu entschied, die beleidigte Leberwurst zu spielen.

Nun würde ich mal anfangen kindisch zu sein! Ab jetzt würde ich beleidigt sein, ihn ignorieren und mich wie Brian und Ryan benehmen. Was er kann, konnte ich schon lange.

Nach meinem Beschluss, kam ich zum nächsten Gedanken, und zwar schämte ich mich dafür, dass ich ihn in gewissen Momenten ansatzweise attraktiv fand. Es mochte sein, dass er nicht schlecht aussah, doch zerstörte sein Charakter alles. In den letzten Stunden hatte mich der Trottel einfach nur mit seinem Charme geblendet und es geschafft mich halbwegs um den Finger zu wickeln. Mein Vergangenheits-Ich war eindeutig zu naiv, leichtgläubig und ließ sich viel zu schnell von Eric einlullen. Genau das würde die Zukunfts-Zoey ändern, hatte gerade so eben ich, die Zoey aus der Gegenwart, beschlossen.

~

Abwartend saß ich auf meinem Bett, denn ich wartete geduldig auf meinen werten Kollegen, denn mehr war er nicht. Eric und ich waren einfach nur Kollegen aus der Suppenküche, die eine Geschäftsreise angetreten waren. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch fest entschlossen meine Vorhaben umzusetzen und war sogar ein klitzekleines bisschen Stolz auf mich.

So langsam verflog meine Geduld und ich wollte nur noch schlafen gehen. Hundemüde ging ich ins Badezimmer, während ich gähnte. Danach legte ich mich in mein Bett und deckte mich mit der weißen Decke zu.

Gerade als ich meine Augen schloss und eine gemütliche Position eingenommen hatte, ertönte ein lautes Klopfen an der Tür. Für einen kleinen Moment überlegte ich mir einfach, die Tür nicht zu öffnen, doch dann kam mir die Überlegung, dass es nicht zwingend Eric sein müsste.

Wohlbedacht trödelte ich und schlenderte gemütlich auf die hölzerne Tür zu. Ihn zappeln zu lassen, in jeglichen Hinsichten, fügte ich soeben zu meinen Vorhaben dazu, weil es mich amüsierte. Plangemäß kindisches Verhalten aufzuweisen, war somit schon begonnen.

Bevor ich den kalten Knauf der Tür, auf dem meine Hand bereits lag, runter drückte, rief ich mir den ganzen Plan abermals vor Augen. Als das Klopfen ein zweites Mal ertönte, führte ich den Knauf nach unten, da ich nun lange genug, den sonst so einfachen Vorgang des Öffnens einer Tür verzögert und bewusst hingehalten hatte.

Mit gestrafften Schultern zog ich die Tür auf und blickte hoch in das Gesicht von Eric. Dieser stand am Türrahmen angelehnt und betrachtete mich nachdenklich. Obwohl ich viele Fragen hatte, schob ich meine Neugier zur Seite, wandte ihm den Rücken zu und lief, diesmal zügig, zu meinem Bett.

"Da du endlich zurück bist, kannst du jetzt den Wecker für morgen um halb acht stellen und die zweite Hälfte der Präsentation lernen, da du diese nämlich übernimmst", stellte ich monoton klar und kroch unter die Bettdecke. Um möglichst viel Abstand zu gewinnen oder einfach das Gefühl zu haben, wandte ich mich von ihm ab und drehte mich so, dass mein Blick nach Vorne der kahlen Wand galt.

Bis jetzt hatte er sich noch nicht geäußert und ich hielt es auch für besser. Denn ich war voller Eifer mich an das zu halten, was ich mir selber schon am Dienstag in der Suppenküche und heute noch einmal versprochen hatte.

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