Kapitel 7: Einsatz mit Folgen
„Wir müssen zum Hauptbahnhof. Jugendliche nicht ansprechbar.", verkündete der Rettungsassistent Johnny beim Einsteigen in den Hubschrauber, während sich Sabine bereits ihren grünen Helm mit der blauen Vorderseite über den Kopf zog und in ihren Gedanken einige mögliche Szenarien durchging, auf die die vier Retter jetzt treffen konnten, sobald sie am Einsatzort landen würden.
Unter Annelieses Kufen zeigte sich schon bald die Innenstadt Hamburgs mit den großen Häuserreihen, den Parks und dem weltberühmten Hamburger Hafen, einem der größten Häfen Europas.
Kaum jedoch hatten Annelieses Kufen den Boden der Hansestadt verlassen, landete die Bell auch schon vor dem Hauptbahnhof.
Mehrere hundert Menschen wuselten am Eingang des Bahnhofes und blieben bei der Landung des SAR-Hubschraubers fasziniert stehen. Die große Uhr am Haupteingang zeigte kurz vor halb 8 und die ganze Stadt schien schon auf den Beinen zu sein.
Schüler liefen zu den S-Bahn und U-Bahngleisen des Hauptbahnhofes, um die Fahrt in die Schule anzutreten, während die Erwachsenen auf ihrem täglichen Arbeitsweg waren.
Mitten in dieses aufgeregte Gewusel rund um den Hauptbahnhof landete nun die bundeswehrgrüne Bell mit der für einen SAR-Hubschrauber typischen orangenen Seitentür.
Als die Kufen des SAR-Hubschraubers endlich wieder am Boden standen, öffnete sich die Seitentür und Notärztin Dr. Petersen und ihr Assistent Johnny stiegen aus.
Der Weg zu dem Patienten wurde den beiden von einer jungen Polizistin mit schwarzen, schulterlangen Haaren gezeigt und führte die Ärztin und den Sanitätern zu den Gleisen in der unteren Etage.
Dort, wo sonst z.B. der Metronom in Richtung Uelzen, Lüneburg oder Bremen oder der Regionalexpress nach Lübeck abfuhr, sahen Sabine und Johnny schon von weitem eine kleine Ansammlung von Menschen.
Inmitten dieser „Traube" kniete ein ca. 15 jähriges Mädchen neben ihrer Freundin, die bewusstlos am Boden lag und sich nicht bewegte.
„Hallo, ich bin Dr. Petersen.", stellte sich Sabine freundlich vor, während sie sich zu ihrer Patientin auf den kalten Boden des Bahnhofes hockte. „Was ist denn passiert?"
„Meine Freundin... Meine Freundin ist plötzlich... umgekippt. Sie bewegt sich nicht mehr. Ich... Wir haben miteinander gestritten... Ich wollte das doch nicht. Ich wollte das alles nicht." Die aufgeregte Stimme der am Boden knienden Teenagerin wurde immer wieder durch heftiges Stottern unterbrochen und ließ es kaum zu, dass sich die Fünfzehnjährige verständlich ausdrücken konnte.
Mitleidig nickte Sabine kurz und erkundigte sich dann: „Hatte deine Freundin schon einmal Probleme mit ihrem Kreislauf? Oder nimmt sie irgendwelche Medikamente?"
„Nein...", widersprach das Mädchen mit energischer Stimme und schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat noch nie solche Probleme gehabt. Und Medikamente nimmt sie auch nicht."
Auch die Klassenleiterin der beiden Mädchen, die hinzukam, wusste weder von Kreislaufproblemen, noch von einer Medikamenteneinnahme ihrer Schülerin. „Wir sind gerade hier auf Klassenfahrt.", berichtete die Lehrerin für Geschichte, Sport und Englisch. „Ich habe bei den Vorbereitungen und den Belehrungen für die Klassenfahrt noch einmal eindringlich alle Schüler befragt."
Johnny, der mittlerweile die EKG-Elektroden auf dem Oberkörper der Patientin platziert hatte, deutete auf das Überwachungsgerät und Sabine nickte erneut.
„Deine Freundin hatte wirklich noch nie Probleme mit dem Herzen? War sie in den letzten Wochen krank? Hatte sie in letzter Zeit eine Grippe oder war sie erkältet?", erkundigte sich die Notärztin, worauf die Freundin den Kopf schüttelte und auf die bewusstlose Patientin sah.
In der Zwischenzeit waren Jens und Wollcke auch schon mit der Trage des SAR-Hubschraubers an der Einsatzstelle angekommen und der Bordtechniker fragte: „Fliegen wir die Patientin? Oder fahrt ihr sie ins Krankenhaus?" „Wir fliegen sie, das geht schneller. Ihr Zustand gefällt mir ganz und gar nicht. ... Wir müssen die Patientin jetzt noch stabilisieren, dann fliegen wir sie ins UKE...", erklärte Sabine, bevor sie ihrem Assistenten anwies, ein den Blutdruck senkendes Medikament aufzuziehen.
Der Rettungsassistent nickte bestätigend und reichte Sabine das auf einer Spritze aufgezogene Medikament, das die Notärztin anschließend ihrer Patientin über den bereits von den zwei neben Johnny hockenden Sanitätern gelegten Zugang verabreichte.
Angespannt sah Sabine auf die Anzeige des EKG-Gerätes, das in weitgehend regelmäßigen Abständen Zackenlinien erkennen ließ. „So... Wir können sie jetzt auf die Trage umbetten und dann nichts wie ab in die Klinik. ... Geben Sie den Eltern des Mädchens Bescheid?", wandte sich Sabine, während Johnny und Wollcke die Patientin gemeinsam auf die Trage hoben, an die Lehrerin, die kurz nickte.„Ja, natürlich. ... Wo bringen Sie Fiona hin?"
„Wir fliegen sie in die Uniklinik nach Eppendorf.", antwortete Sabine, bevor ihr Blick auf das Mädchen fiel und sie kurz erschrak. Die Patientin war keine geringere, als... Fiona, die Tochter von Jens und seiner Ex-Frau.
„Fiona...", flüsterte die Ärztin fast unhörbar und blickte zu ihrem Lebensgefährten, der seine Tochter bereits erkannte, sich allerdings nichts anmerken ließ.
Die Bahnhofsdurchsage, auf Gleis 14 traf gerade ein Fernzug nach München ein, unterbrach die Stille, bevor sich die vier Rettungsflieger auf den Weg zum Hubschrauber machten.
„Fiona... Meine Freundin wird doch wieder gesund, oder?", fragte die Freundin der 16 Jährigen, als sie sich endlich ein wenig beruhigt hatte.
„Ja... Ja, natürlich wird Fiona wieder gesund. Du kannst sie gerne später im Krankenhaus besuchen, wenn du möchtest. ... Mach dir keine Sorgen um deine Freundin, sie kommt sicherlich bald wieder auf die Beine kommen.", versprach Sabine und folgte ihren drei Kollegen zum Hubschrauber. Dabei blieb ihr Blick auf ihrem Lebensgefährten, der sich große Sorgen um seine Tochter zu machen schien, kleben.
Die Trage war ziemlich flott im Hubschrauber verstaut und schon erhob sich die Bell vom Boden.
„Hamburg Tower, MedEvac 7087 is airborne at Hamburg main station, inbound UKE.", meldete Jens per Funk der Flugleitung und steuerte Anneliese in Richtung der Uniklinik.
Johnny meldete mit einem Blick auf Fiona die Teenagerin über die Rettungsleitstelle im Krankenhaus an, die diese Anmeldung sogleich bestätigte.
Wollcke, der den aufgeschlagenen Stadtplan auf den Knien hatte, um seinem Freund die nötigen Routenanweisungen zu geben, sah inzwischen kurz nach hinten zu Fiona.
„Wie geht es ihr?", erkundigte sich der Mechaniker bei der Ärztin. „Soweit ist sie stabil. Aber wir sollten trotzdem nicht allzu lange für den Weg ins Krankenhaus brauchen."
„Wir sind schon am Anschlag.", entgegnete Jens seiner Lebensgefährtin und sah kurz nach hinten zu seiner Tochter.
Im Gegensatz zu Sabine hatte er die Sechzehnjährige sofort erkannt und war deswegen auch kaum noch zu einem Gespräch fähig. Das bemerkte der Bordtechniker sofort.
„Sag mal, Jens. Ist alles in Ordnung?", erkundigte sich Wollcke bei seinem Freund, der, während er kurz zu seiner Tochter sah, mit seinen Gedanken ganz woanders war und dem Bordtechniker nicht zuhörte. „Jens?"
„Was? Ja... Ja, es ist alles in Ordnung.", erklärte der Pilot und sah wieder nach vorne. „Sabine, ist alles klar? Wir sind gerade im Landeanflug..."
„Alles klar.", bestätigte Sabine und sah unter Annelieses Kufen bereits die ersten Gebäude des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf auftauchen.
Vorsichtig setzten die Kufen des Hubschraubers wenig später auf dem Landeplatz auf und zwei Pfleger kamen mit einem Gestell, auf das die Trage nun abgestellt wurde, an die Bell gerannt.
Sabine überwachte das Ausladen der Trage genau und begleitete mit Johnny zusammen ihre Patientin anschließend in die Notaufnahme des Uniklinikums.
Jens und Wollcke blieben in der Zwischenzeit bei Anneliese stehen und sahen der Notärztin und dem Rettungsassistenten hinterher.„Hallo, das ist Fiona, 16 Jahre alt. Sie ist am Hauptbahnhof ohne äußere Umstände ohnmächtig zusammengebrochen. Seitdem kommt sie nicht mehr wieder zu Bewusstsein. Laut Aussagen der besten Freundin und der Klassenlehrerin nimmt sie keinerlei Medikamente und hatte auch noch nie Probleme mit dem Kreislauf oder dem Herzen. Drin sind null Fünf Diazepam und eine Ringer. Bei unserem Eintreffen hatte sie einen viel zu hohen Puls, der Blutdruck war den Transport über soweit stabil bei 110."
„OK, wir übernehmen die Patientin.", erklärte der in der Notaufnahme diensthabende Arzt und während die Sechzehnjährige auf die Untersuchungsliege im Schockraum umgebettet wurde, erkundigte er sich noch: „Sind die Angehörigen der Patientin schon informiert?" „Ja, die Klassenleiterin hat die Eltern bereits informiert. ... Philipp, könnte ich dich mal bitte kurz...?"
Der Arzt folgte Sabine in eine abgelegene Ecke des Schockraumes und sah die Kollegin forschend an. „Was ist denn los, Sabine?" „Die Patientin... Die Patientin ist die leibliche Tochter von Jens... von unserem Piloten. Ich... Könntest du mich bitte auf dem Laufenden halten, was bei den Untersuchungen rauskommt und wie es ihr geht?"
Sabines junger Kollege sah kurz zu Fiona und antwortete dann auf Sabines Frage: „Ja... Ja natürlich kann ich dich auf dem Laufenden halten... Aber... Ist euer Pilot nicht mit der Mutter...?" „Nein, die beiden sind seit mehr als zehn Jahren geschieden. Jens hat mir erst heute Morgen beim Frühstück von Fiona erzählt..."
„In Ordnung... Dann wollen wir uns die junge Dame doch mal ganz genau anschauen." Mit diesen Worten wandte sich der Arzt wieder in Richtung Fiona, die in der Zwischenzeit wieder halbwegs ansprechbar war.
„Oh, wie ich sehe... Ist die junge Dame ja auch schon wieder munter geworden... Hallo Fiona. Kannst du mich verstehen?", sprach der Arzt seine Patientin an.
Die Sechzehnjährige nickte kurz, bevor sie fragte: „Wo... Wo bin ich denn hier? Was ist denn passiert?" „Du bist in der Uniklinik, ich bin Dr. Bleichmann. Wie fühlst du dich?"Fiona sah kurz an sich hinunter und nickte. „Was... Was ist denn passiert? Wieso Uniklinik? Wie komme ich denn hier her? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern..." „Du bist zusammengebrochen...", berichtete Sabine. „Und deine Freundin hat die Rettung verständigt. Wir haben dich mit unserem Hubschrauber her geflogen, Fiona."
„Mit dem... Mit dem Hubschrauber? Wirklich mit dem Hubschrauber?", wollte die Patientin geschockt wissen und ein wenig Angst schien sich in ihr auszubreiten.
„Ja... Wir haben dich mit dem Hubschrauber geflogen. ... Hast du damit wohl ein Problem?", erkundigte sich Sabine bei der noch etwas erschöpften Patientin, die kaum ihre Augen offen halten konnte. „Nein... Nein, das nicht. Aber mein Papa... also mein richtiger Papa... der ist Pilot... Von einem Hubschrauber... auch bei ihrem Verein... Aber ich durfte, seit ich fünf Jahre alt war, keinen Kontakt mehr zu Papa haben. Damals hat Mama mich einfach... ins Auto gezerrt und... Und dann sind wir weggefahren. ... Dabei vermisse ich meinen Papa so sehr."
Fiona liefen die Tränen aus den Augen und sie schluchzte leise, weswegen Sabine ihr mitfühlend ihre Hand auf die Schulter legte und beruhigt sagte: „Ich bin mir fast sicher, dass dein lieber Papa dich genauso sehr vermisst, wie du ihn vermisst. Vielleicht kommt er dich auch bald besuchen..."
„Bestimmt nicht... Er hat mich sicherlich schon längst vergessen. Vielleicht hat er ja sogar schon neue Kinder... Eine neue Tochter. Und braucht mich gar nicht mehr." Betrübt sah Fiona aus dem Fenster und Sabine und Johnny verabschiedeten sich von der Patientin, während der nun behandelnde Arzt von Fiona mit der Untersuchung der Sechzehnjährigen begann und dabei Erstaunliches zu Tage führte.
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Vaterfreuden
FanfictionJens und seine Ehefrau sind noch glücklicher, als sich ein Baby ankündigt. Fünf Jahre lang kann niemand die kleine Familie trennen, bis Jens' Frau plötzlich Thomas kennen lernt. Zehn Jahre sind Jens und seine kleine Prinzessin Fiona getrennt. Doch e...