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Langsam,wie in Zeitlupe streckte er die Hand nach ihr aus. Sanft, ganz sanft,als wäre sie eine Seifenblase, berührte er ihr Wange. Fuhr mit demFinger vorsichtig einen der blauen Flecken nach. Sein Blick wanderteweiter und so tat es seine Hand. Es war als berührte er jedeeinzelne ihrer sichtbaren Verletzungen. Als könnte er nichtverstehen, was mit ihr passiert war. Jjs Blick wanderte mit seinerHand. Beobachtete ihn dabei, wie er, wie in Trance, langsam ihre Hautliebkoste. Nun nahm er ihre Hand, legte sie in die seine und schautesie wortlos an. Minutenlang rührte er sich nicht, völlig fixiertauf die Hand, mit der Jj normalerweise immer ihre Kamera hielt. Wielange würde sie wohl noch schmerzen haben? Würde sie jemals wiedereine Kamera halten können, ohne Schmerzen zu haben? Was war, wenn erin seinem Wahnsinn ihr Leben zerstört hatte? Wenn sie nie wiederihren Beruf ausüben konnte?
Ein tiefer Seufzer entwich seinerLunge, als er langsam seine Stirn auf ihre Finger sinken ließ,bedacht darauf ihr nicht mehr weh zu tun.

„Estut mir so leid...", flüsterte er.

Lange,vielleicht sogar eine Ewigkeit, blieb er in dieser Position, bis erplötzlich bemerkte, wie sie den Griff um seine Hand verstärkte.Irritiert hob er den Blick. Etwas in Panik. Hatte er ihr etwa schonwieder weh getan? Nein, ihr Blick sagte ihm etwas anderes. Er warsanft, fast schon liebevoll, falls sie so etwas wie Liebe überhauptfür ihn empfinden konnte. Sie nahm seine zitternde Hand zwischen dieihren. Legte sie sich auf die Wange und schloss die Augen. EinLächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie sich völlig dieserkleinen Berührung hingab. Sie hoffte, dass er sie richtig deutenwürde. Das er spüren würde, dass sie ihm nicht böse war. Javielleicht sogar, dass sie ihn liebte. Plötzlich spürte sie etwasan ihrer Lippe. Eine kleine, kaum merkliche Berührung.
IhreAugen flogen auf, doch es war zu spät, es war, als wäre nichtsgewesen. Hatte sie sich das nur eingebildet? Oder hatte er sie dochgeküsst? Etwas ratlos schaute sie ihm hinterher, als er fluchtartigden Raum verließ.

Keinersagte etwas. Keiner traute sich die Atmosphäre noch schlimmer zumachen, als sie schon war. Alle schauten sie betreten zu Boden. Nichtfähig sich zu rühren, was wäre, wenn sie so Jj's Aufmerksamkeitauf sich ziehen würden, ihre Wut könnte furchtbar sein, schien esals verging Sekunde um Sekunde, in der keiner Anstalten machte etwasan der derzeitigen Situation zu ändern. Geschockt darüber, dasskeiner ihm nachging, ihn zurück holte oder gar versuchte ihnaufzuhalten, war Jj diejenige, welche sich trotz ihrer Schmerzen vonihrem Sitz quälte und ihm versuchte hinterher zu kommen. AlleGlieder protestierten gegen die plötzlichen Bewegungen, doch daraufkonnte sie gerade jetzt keine Rücksicht nehmen. Im Flur schaute siesich um. Wo war er hin gegangen? Ihr Blick fiel auf die Haustür.Nein, er wäre sicherlich nicht raus gegangen bei der derzeitigenLage oder, und das kam ihr im Moment sogar noch plausibler vor, erwar grade wegen der derzeitigen Lage hinaus gegangen. Ja, das wäretypisch für ihn, das machen, was am unlogischsten erscheint. Ja, dawar er, schon ein gutes Stück Richtung Wald gelaufen. Mühsamversuchte sie ihm nach zu laufen ungeachtet der Tatsache, dass dasStechen in ihrer Rippengegend immer unerträglicher wurde.

„Keat.",rief sie ihm hinterher, doch er reagierte nicht. War es vielleichtnicht laut genug gewesen?

„Keaton!",rief sie lauter. Schwer atmend hinter ihm her humpelnd, denn wie sie jetzt bemerkte, war wohl auch eines ihrer Beine schwer inMitleidenschaft gezogen worden.

       

Geraderief sie zum dritten Mal seinen Namen. Schrie ihn aus voller Lunge,damit er ihn nicht mehr überhören konnte, als er sich endlichumdrehte.
Erleichtert darüber, dass er sie endlich gehörthatte, wollte sie schnell auf ihn zueilen, hatte aber die Rechnungohne ihr Bein gemacht, dass plötzlich, mitten im Lauf unter ihrnachgab.

Tränenschossen ihr in die Augen, als die kleinen Steine des Splitt-Wegessich in ihre Hämatome bohrten. Sie wollte aufstehen, doch dasschaffte sie nicht mehr. Zu kraftlos und zu geschunden war ihrKörper, als das er ihrem Befehl nachkam sich nach diesem Sturzwieder zu quälen. Müde und frustriert ließ sie ihren Kopf aufihren Arm sinken, die Tränen kullerten nur so vor sich hin, alshätten sie schon sehr sehr lange darauf gewartet auszubrechen. Sienahmen gar kein Ende.

Alsdie Tränen endlich versiegt waren, es mussten Stunden gewesen sein,in denen sie auf dem harten Boden gelegen hatte, hatte sich ein Planin ihrem Kopf manifestiert. Sie war zwar traurig, Keaton hatte siefallen sehen, das wusste sie, denn er hatte sich ja zu ihr umgedreht,als sie nach ihm gerufen hatte und war stehen geblieben, aber siekonnte verstehen, dass er so jemanden, wie sie es war, nicht liebenkonnte. Es war ihr schon immer klar gewesen, dass sie niemand würdehaben wollen, dick und klein und böse drein Blickend wie sie nun malwar. Der Abtörner schlechthin. Dennoch. Sie hatte einen Vertragunterschrieben. Sie wusste schon jetzt, dass dieser Vertrag einesTages ihr Todesurteil sein würde, aber damit würde sie lebenmüssen. Schließlich war es ein Vertrag, den sie entworfen hatte.Mühsam erhob sie sich vom Boden. Dank der Abkühlung, die dasStundenlange rumliegen mit sich gebracht hatte, waren auch dieSchmerzen erträglicher geworden, und humpelte zurück zum Haus.Gerade, als sie es wieder erreichte, kam Emma hinausgestürmt, eineDecke in der Hand, Panik im Gesicht.

„JJ!Ich war grade auf dem Weg zu dir, ich habe grade... oh Gott, es tutmir so Leid, dass ich geschlafen habe.... da hab ich dich da liegensehen. Ich habe grade... Himmel! Wie geht es dir? Fehlt dir etwas? Sosprich doch mit mir!", so verwirrt sie am Anfang gesprochen hatte,so hysterisch schrie sie ihr den letzen Satz ins Ohr.

„Em,....komm runter, es ging mir nie besser. Lass uns rein gehen. Ich habeetwas mit meinen Schwiegereltern zu besprechen.", lächelte sie siean, während Emma ihr skeptisch drein schauend die Decke um legte.

„Aberbevor ich rein gehe," hielt sie Emma vor der Tür zurück, „Emma,darf ich fürs Erste zu dir ziehen?" Emma schaute sie noch etwasskeptischer an, bejahte aber trotzdem sofort. Sie wusste nicht, wasJj vor hatte, aber wenn es bedeutete, dass sie wieder auf die Beinekam und wieder die alte, fröhliche Jj wurde, die sie kennengelernthatte, dann wollte sie alles tun, was in ihrer Macht stand. EinLächeln erschien auf Jj's Gesicht. Der Dank, denn sie ihr damitvermittelte, war unübersehbar.

Schnapschuss = LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt