Ohne Titel Teil4

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Wir saßen noch eine ganze Zeit lang in der kleinen Küche und unterhielten uns. Nach und nach erzählten wir uns gegenseitig von unserem Leben. Ich berichtete ihr von meinem Leben in New York, ganz oben an der Spitze der Gesellschaft und doch allein. Sie erzählte mir von ihrem Leben hier im Reservat, umgeben von Menschen die sie liebte und doch am Rande der Gesellschaft. Viel unterschiedlicher hätten unsere Leben nicht sein können. Und obwohl es hier alles bescheidener war, als das was ich gewohnt war, so würde ich dieses Leben dem meinen immer vor ziehen. Obwohl ich es nur aus der Erzählung meiner Mutter erahnen konnte, erschien es mir so viel lebenswerter, als das meine.
Das wir beide dem jeweils andern ein paar entscheidende Dinge vor enthielten, schienen wir beide zu wissen. Dennoch fragte keiner von uns weiter nach.
Sue hatte die ganze Zeit still zu gehört und uns gelegentlich neuen Kaffee gegeben. Als ich zum ersten Mal seid meiner Ankunft hier auf die Uhr sah, fuhr ich erschrocken zusammen. Wenn ich der Anzeige trauen konnte, war es bereits kurz nach zwei Uhr in der Nacht.
„Oh Gott!", entfuhr es mir, ohne das ich beabsichtigt hatte, es laut aus zu sprechen. Die beiden Frauen, die Links und rechts neben mir saßen, begannen zu kichern. Allem Anschein nach hatte ich wohl einen sehr amüsanten Gesichtsausdruck drauf.
„Ja, Lucy, es ist wirklich schon so spät", lächelte Sue mich an.
„Sue, es tut mir ja so leid, dass wir dich die halbe Nacht wach gehalten haben", entschuldigte ich mich schnell bei ihr. Ich kam mir gerade so rücksichtslos vor.
„Ach, ist schon in Ordnung.", winkte die Indianerin ab.
„Aber vielleicht sollten wir jetzt wirklich mal nach Hause gehen.", sagte meiner Mutter, erhob sich und stellte unsere Tassen in die abgenutzte Spüle. Dann streckte sie ihre Hand nach mir aus und sah mich erwartungsvoll an.
„Kommst du?"
Oh! Sie wollte, dass ich mit zu ihr kam. Irgendwie war ich damit gerade etwas überfordert und wusste nicht genau, wie ich reagieren sollte. Immerhin kannte ich sie gerade mal ein paar Stunden. Aber selbst nach den paar Stunden, fühlte ich mich ihr so verbunden, wie ich es bei meinem Vater nie getan hatte.
Ganz langsam und ohne sie an zu sehen stand ich auf und griff nach der Hand.
„Danke Sue, dass du mich angerufen hast", sagte meine Mutter, als sie mit mir in den Flur lief und nach einem meiner Koffer griff.
„War doch selbstverständlich, Stella", sie griff nach einem weiteren Koffer, „Ich half euch noch schnell, die Koffer rüber bringen."
Ich nickte nur einmal und griff nach dem Dritten. Als meine Mutter die Türe öffnete schlug uns sofort ein eisiger Wind entgegen. Aber immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Innerlich stöhnte ich auf. Ich hatte nicht viel Lust mitten in der Nacht und bei der Kälte durch den Ort zu laufen, denn ein Auto konnte ich nirgends sehen. Also musste Stella hier her gelaufen sein. Hoffentlich wohnte sie nicht all zu weit weg, dachte ich und folgte ihr auf den Gehweg.
Zu meiner großen Überraschung bog sie jedoch sofort wieder in den benachbarten Garten ein. Anscheinend war sie die Nachbarin von Sue. Erleichterung machte sich in mir breit, als wir das kleine Haus betraten, noch bevor die Kälte durch meine Kleidung dringen konnte.
Als meine Mutter den Lichtschalter neben der Tür betätigte und das warme Licht den Raum erfüllte, stellte ich fest, dass ich in einem kleinen, mit Holz verkleideten Flur stand. Links und rechts gingen je zwei Türen ab und in der Mitte befand sich einen schmale Treppe in die obere Etage.
Als Sue meinen Koffer neben mir ab stellte, fiel mir erst wieder ein, dass sie noch da war.
„Danke Sue, für alles", sagte ich aufrichtig und nahm die schmale Indianerin einfach in den Arm. Ich hatte sie schon jetzt ins Herz geschlossen und war ihr unendlich dankbar.
„Gern geschehen Lucy. Gute Nacht. Und wenn noch irgend etwas sein sollte, komm einfach rüber.", sagte sie, als sie sich lächelnd von uns verabschiedete. So wie es aus sah, lächelte sie die ganze Zeit über.
„Gute Nacht Sue und nochmals Danke", rief meine Mutter ihr noch hinterher, bevor sie die Türe hinter ihr schloss. Als sie diese auch verriegelt hatte, wand sie sich wieder an mich.
„So, dann werd ich dir mal das Gästezimmer zeigen. Du bist doch bestimmt Müde", sagte sie und schob den ersten Koffer die Treppe hoch.
Schnell griff ich nach den anderen beiden und versuchte ihr zu folgen. Nach den ersten beiden Stufen musste ich allerdings schon fest stellen, dass ich nie mit beiden Koffern gleichzeitig lebend oben an kommen würde. Daher lies ich einen wieder hinunter rutschen und nahm den andern mit. Dann musste ich halt zwei mal laufen.
Oben angekommen stand ich in einem schmalen Flur, der dem unten sehr ähnlich sah. Hier gingen zu jeder Seite zwei Türen ab. Sue stand vor der ersten Türe auf der linken Seite.
Als sie die Türe auf schob sah sie mich freundlich an.
„Das war bis gerade eben das Gästezimmer, jetzt ist es deines", sie trat einen Schritt zur Seite, so dass ich an ihr vorbei in das Zimmer gehen konnte.
Die alte Lampe tauchte den Raum in ein warmes Licht und auch wenn die Einrichtung nur aus einem Bett, einem Schrank, einem Nachttisch sowie einem Schaukelstuhl bestand, sah es sehr gemütlich aus. Was zum Teil auch an dem schweren cremefarbenen Teppichboden, so wie den hell braunen Wänden lag. Etwas altmodisch und zweckmäßig vielleicht, aber mir gefiel es.
„Danke", sagte ich, als ich meinen Koffer rein schob, „ sieht total gemütlich aus."
„Alles was dir nicht gefällt, ändern wir nach und nach einfach. Das Bad ist gegenüber. Ich bring dir noch deinen anderen Koffer und dann lass ich dich erst einmal schlafen. Das war bestimmt ein langer Tag für dich."
„Ja, war es. Aber ich bin froh, dass ich jetzt hier bin", waren die Worte schon raus, bevor ich es verhindern konnte. Ich biss mir verlegen auf die Unterlippe. Ich hatte ein Talent dazu, zu sprechen, bevor ich dachte. War meistens einfach nur peinlich. Doch meine Mutter durchquerte einfach nur den Raum und schloss mich in ihre Arme.
„Ich auch Lucy. Und ich lass dich so schnell auch nicht mehr gehen"; dann gab sie mich frei und ging in den Flur.
Ich kramte in einem der Koffer nach etwas, in dem ich schlafen gehen konnte. Schnell hatte ich eine Jogginghose und ein einfarbiges T-Shirt, beides in schwarz gefunden. Das würde gehen. Immer hin lief ich morgen früh Gefahr, meinem mir noch unbekannten Bruder über den weg zu laufen, noch bevor ich es bis ins Bad schaffte. Da wollte ich auf Nummer sicher gehen. Meine Hotpants und das enge Spitzenhemd, in dem ich sonst schlief, waren da eher ein Garant dafür, dass es peinlich werden würde.
Kurz zögerte ich, dann machte ich mich auf dem Weg ins Bad gegenüber. Es war ein einfaches Bad, aber es gab alles was man brauchte. Eine Wanne, eine Dusche, WC und ein Waschbecken. In einer Ecke stand ein schmaler Schrank mit Handtüchern. Zweckmäßig, wie anscheinend alles hier, aber ausreichend. Ich war noch nie eines der Mädchen gewesen, die sich Stunden im Bad aufhalten konnten. Daher war es mir mehr als groß genug. Schnell mache ich mich fertig und ging zurück ins Gästezimmer. Ähm, mein Zimmer. An den Gedanken, wirklich bei meiner Mutter wohnen zu Dürfen, würde ich mich erst noch gewöhnen müssen.
Meine Mutter war nirgends zu sehen, aber mein letzter Koffer stand mitten im Raum und eine Flasche Wasser auf dem Nachttisch. So wie es aus sah, wollte sie mir jetzt erst einmal Zeit für mich geben. Was mir wirklich gelegen kam. Ich hatte einen ganzen Haufen zu verarbeiten und war Hunde müde.
Ich suchte noch kurz ein paar Sachen für morgen früh raus und beschloss den Rest bis morgen im Koffer zu lassen. Es würde mir weder weg laufen, noch würde es jemand für mich weg räumen. Dann löschte ich das Licht. Es dauerte etwas, bis ich mich im dunklen zum Bett vor gearbeitet hatte. Immerhin war es eine fremde Umgebung, da lief ich extra langsam. Ich hatte wenig Lust mir irgendwo den Zeh an zu hauen, oder etwas um zuwerfen. Zum Glück erreichte ich mein Ziel, ohne irgendwelche Zwischenfälle.
Schnell legte ich mich in das Bett und kuschelte mich in die dicke Daunendecke ein. Es war bequem und ich konnte mich wirklich daran gewöhnen. Von meinem Platz aus konnte ich durch das kleine Fenster blicken. Zwar konnte ich im liegen nichts außer dem Wolkenverhangenen Himmel sehen und die Schatten des Waldes, die ins zimmer fielen und an der Wand tanzten. Aber ich sah vor dem einschlafen gerne noch raus. Irgendwie hatte es etwas beruhigendes auf mich, sonst hatte ich schnell das Gefühl eingesperrt zu sein.
Sobald ich meine Augen geschlossen hatte, begannen meine Gedanken um die Ereignisse des Abend zu kreisen. Alles spielte sich in meinem Kopf noch einmal ab, doch irgendwann wurde ich von meiner Müdigkeit übermannt und schlief ein.

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