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Es dauerte fast eine geschlagene Stunde, bis Paul sich so weit wieder beruhigt hatte, dass er als Mensch zurück kommen konnte. Zerknirscht und noch immer angespannt betrat er das Wohnzimmer, in dem wir anderen uns angeregt unterhielten.
Ich musste zu geben, dass die beiden Besucher zwar ganz nett wirkten, aber ich ihnen keine zwei Meter über den Weg traute. Was mir aber keiner von ihnen übel nahm, als ich es kleinlaut zugegeben hatte. Der Doc. War der Meinung, dass ich zu viel Zeit mit den Wölfen verbringen würde, um ihnen zu trauen. Als wäre es ein natürlicher Instinkt von mir.
Paul stellte sich an eine Wand hinter dem Sofa und beobachtete die Vampire kritisch, als wartete er nur darauf, dass sie eine falsche Bewegung machen würden.
Meine Mutter war ein wenig später, höchst besorgt, in Emilys Wohnzimmer gestürmt, dicht gefolgt von meinem Bruder. Sie eilte geradewegs auf mich zu, wollte mich wahrscheinlich überschwänglich in ihre Arme ziehen.
Oh Gott, bitte nicht!
Ich bereitete mich im Stillen schon auf den Schmerz vor, den ihre ach so herzliche Art gleich an meinem Blessuren auslösen würde. Klasse, ich war ja gerade auch mal ein paar Minuten von meinem Zustand abgelenkt gewesen.
Doch noch bevor sie mich erreicht hatte, hatten sich Sam, Paul und Jared vor mir aufgebaut. Auch wenn ich sie nur von hinten sehen konnte, so sagte ihre angespannte Haltung doch alles. An ihnen war so ohne weiteres kein Vorbeikommen. Selbst für meine Mutter nicht. Die sehr deutliche Warnung, die in der Körpersprache der Männer zu erkennen war, ließ meine Mutter ins Stocken kommen. Verwundert riss sie die Augen auf und blickte ihren Sohn ängstlich an.
„Mom", begann Jared und ging einen Schritt auf unsere Mutter zu, „Sei uns bitte nicht böse, aber Lucy hat so einiges ab bekommen. Könntest du bitte etwas vorsichtig sein?"
Die Augen meiner Mutter weiteten sich noch etwas mehr, als sie ihren Sohn streng an sah.
„Jared, sie ist meine Tochter, falls du das vergessen haben solltest!", sie klang ehrlich entsetzt, über die Haltung der Männer ihr gegenüber, „Glaubt ihr allen ernstes, dass ich ihr auch nur irgendwie weh tun könnte?"
„Nein, aber...", begann mein Bruder kleinlaut. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ihm ein wenig helfen zu müssen.
„Lass gut sein Jared", flüsterte ich und sah dabei meine Mutter direkt an. Auch wenn ich den Jungs dankbar für ihren Schutz war, so war er jetzt gerade alles andere als angebracht. Immerhin war es meine Mutter, die zu mir wollte, verständlicher Weise. Die sollten sich mal bitte nicht so anstellen. Immerhin hatte ich es ja auch schon wieder alleine ins Wohnzimmer geschafft. Ich war ja nicht plötzlich aus Glas.
Sam und Jared schienen nun auch ein zu sehen, dass ihr Verhalten nicht gerade rational gewesen war, denn sie traten mit gesenkten Köpfen bei Seite. Ihre gesamte Haltung war nun um einiges entspannter. Paul hingegen legte kaum etwas von seiner Anspannung ab und kniete sich neben mich. Eine meiner Hände hatte er in seine genommen und sofort war das Kribbeln, welches jede seiner Berührungen auslöse wieder da. Es bahnte sich seinen Weg durch meinen Körper, wie ein unaufhaltsames Feuer. Sorgsam drauf bedacht, jede noch so kleine Faser meines Seins zu entflammen, ob ich wollte, oder nicht. Sein Blick lag jedoch immer noch prüfend auf meiner Mutter.
Diese seufzte resignierend und nahm den Platz neben Paul ein. Zögerlich und ganz behutsam, griff sie nach meiner anderen Hand. Ihre kühlen Finger waren ein so krasser Kontrast zu Pauls Hitze, dass ich mich zusammen reißen musste, um nicht davor zurück zu weichen. Ich hatte beinahe vergessen, wie unnatürlich die Wärme der Jungs doch war.
Mit ihrer freien Hand strich sie mir sanft übers Gesicht. Ihr Blick dabei war unergründlich und eine einzelne Träne stahl sich aus ihren sonst so strahlenden braunen Augen. Ich war mich sicher, dass sie sich zuvor geschworen hatte, nicht zu weinen, egal, was sie erwartete. Mom war keine Frau, die den anderen gegenüber ihre Schwäche und Verletzlichkeit offen legte. Sie war eine starke Frau, die im stillen und nur für sich, die Kämpfe in ihrem Inneren aus trug. In dem Wissen, berührte mich diese einzelne Träne mehr, als es alle Worte der Welt gekonnt hätten. Nie hatte ich es für möglich gehalten, dass meine taffe Mutter mal so gebrochen vor mir knien würde. Das schlimmste daran war aber, dass ich der Grund dafür war.
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live sucks
Fiksi PenggemarAugen, die noch vor wenigen Stunden so viel Wärme, Geborgenheit und Liebe ausgestrahlt hatten. Jetzt waren sie matt, fast schon leblos, als wäre nichts mehr in ihnen. Krampfhaft versuchte ich einen klaren Gedanken zu fassen. Das Chaos in meinem Inne...