112| Unexpected

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Kapitel 112
Unexpected
[Melody Rose Morgan]
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Ich beobachte den Sarg dabei, wie er in die Erde eingelassen wird. Nie wieder werde ich meinen Vater sehen. Ich werde mich nie mit ihm versöhnen können.

Ich spüre Shawns Arm, der sich fester um mich schlingt. Neben mir bricht meine Mutter in Tränen aus. Die ganze Zeit hat sie sich zusammengerissen. Keine einzige Träne hat ihr Auge verlassen.

Ihr Gesicht wird nun jedoch von Flüssen überströmt. Meine Hand greift nach ihrer, um ihr zu versichern, dass alles gut wird.

Wir stehen noch Minuten vor dem Grab, ohne etwas zu tun. Jeder macht sich bereits auf den Weg. Dabei bekunden sie ihr Beileid.

All die Männer, die ich hasse, laufen an mir vorbei und sagen, wie leid es ihnen täte und was mein Dad für ein toller Kollege gewesen wäre. Ich weiß es nicht. War er das?

All die Menschen scheinen ihn besser zu kennen, als ich. Oder sie können besser schauspielern, als erwartet.

Nach all den Jahren habe ich nicht das Gefühl meinen Vater zu kennen.

Er ist wie ein Fremder.

Männer in teuren Anzügen laufen reihenweise an mir vorbei. Für den Beruf meines Vaters habe ich mich nie interessiert.

Er ist Anwalt. Super interessant. Doch jetzt wünschte ich, ich hätte ihn öfter danach gefragt.

"Wollen wir gehen?", frage ich meine Mutter nach einer Weile.

Sie schüttelt ihren Kopf.

"Geh ruhig schon einmal. Ich bleibe noch ein wenig hier. Wahrscheinlich brauche ich ein wenig Zeit für mich alleine", murmelt sie dann, wobei sie mich sanft und müde anlächelt.

Meine Mutter sieht seit den letzten Tagen unheimlich erschöpft an. Es macht mich mindestens ebenso fertig.

"Komm", Shawn hakt sich bei mir unter und führt mich zum Auto.

"Wollen wir nicht zu Fuß laufen? Es ist nicht weit und wir müssen nicht Ewigkeiten im Auto verbringen", werfe ich ein und lächele Shawn an. Er scheint kurz zu überlegen, nickt dann aber.

"Weißt du, was mir aufgefallen ist? Ich habe dich sehr lange nicht mehr auf die Schippe genommen. Generell bin ich viel zu zahm geworden", lache ich und stupse ihn in die Seite.

"Das fehlt dir also? Du willst dich wieder über mich lustig machen?", lacht Shawn während er mich ansieht.

"Ja! Kannst du dich nicht mehr an unsere E-Mails erinnern? Du muffin.lover"

"Natürlich kann ich das, bett.lover"

Ich lache ein wenig.

"Ich hege immer noch eine innige Beziehung zu meinem Bett. Das wird sich auch nie ändern. Außerdem benutze ich es schließlich nicht als meine E-Mail Adresse"

"Datenschutzrechtliche Gründe, sage ich nur dazu. Wobei ich dir bei der Sache mit dem Bett zustimmen muss, vor allem wenn wir uns beide in einem befinden", grinst er.

Ich lache auf und boxe ihn gegen den Arm.

"Shawn!", sage ich noch dazu. Wobei das schon das 'Versauteste' ist, das er bis jetzt zu mir gesagt hat. Zugegebener Maßen ist das ziemlich traurig, aber süß.

Shawn umfasst aus dem nichts meine Taille und hebt mich hoch.

"Willst du dir einen Bruch heben? Ich wiege Zentner! Lass mich los Shawn!", quieke ich und klopfe gegen seine Arme, die mich durch die Luft schwingen.

"Ich lasse dich nie wieder los", lacht er.

"Auf Dauer bekommst du nur einen Krampf!"

Ich atme die kalte Luft tief ein. Es tut gut zu spüren, wie sie mir durch den Körper strömt. Sie erfüllt alle meine Venen.

Ich fühle mich frei.

Bei der wilden Schleuderei rutscht mir die schwarze Mütze, die ich kunstvoll auf meinen Locken trappiert habe, fast vom Kopf. Schnell greife ich danach und setze sie richtig auf.

Kaum zu glauben, doch Shawn schleudert mich immer noch in der Luft herum, obwohl ich wirklich nicht leicht bin.

Nach einer Weile setzt er mich schweratmend vor sich auf den Boden ab.

Meine Hände greifen an seine Oberarme, während ich in seine braunen Augen blicke. Der weiße, strahlende Schnee spiegelt sich in ihnen wieder und lässt seine Iris wie Kaffee mit Sahne aussehen. Ich atme aus und beobachte die Luft dabei, wie sie sich in ein weißes, kleines Wölkchen verwandelt.

Mit seinen heißen Lippen schließt Shawn die Lücke zwischen unseren Münder, bevor er seine Finger mit meinen verschränkt und sich zum Weitergehen wendet.

"Ich war mir so sicher, dass ich in Toronto studieren würde. Ich war mir so sicher. Das ist es immer noch, doch ich möchte meine Mutter nicht alleine lassen. Jetzt wo Dad tot ist... Ich weiß nicht, wie sie das schaffen soll", sage ich und beobachte meine Füße dabei, wie sie knacksend Spuren in dem weißen Schnee hinterlassen.

"Deine Mutter sieht aus, als würde sie es schaffen. Dennoch solltest du dir deine Entscheidung gut überlegen. Ich verstehe dich. Das tue ich wirklich, denn meine Familie ist das Wichtigste für mich", entgegnet Shawn, wobei er nach vorne starrt.

"Es war schon immer ein Traum von mir in Toronto zu studieren. Außerdem wäre ich dann näher bei dir...", sage ich.

"Melody, das mit uns, klar es wäre wunderbar, wenn du unmittelbar in meiner Nähe wärst, doch wir würden es auch so hinbekommen. Es sollte nicht deine Entscheidung beeinflussen. Dein Traum allerdings schon"

"Klar sollte es das. Shawn, ich dachte wir sind beide an dem Punkt angelangt, an dem wir diese Beziehung als etwas Ernstes ansehen. Aus diesem Grund muss ich es berücksichtigen", sage ich und lächele.

"Dann werde ich dich nicht davon abhalten"

"Ich muss mir das alles noch durch den Kopf gehen lassen. Es ist eine wichtige Entscheidung. In letzter Zeit haben so viele unberechenbare Sachen mein Leben beeinflusst, dass ich gar nicht mehr weiß, was richtig ist", murmele ich.

"Das verstehe ich. Du bekommst das schon hin. Schau mal, wir sind schon da", gibt Shawn von sich und deutet auf mein altes Haus.

unexpected [s.m] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt