Teil I - 1

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"Lass es uns noch einmal versuchen Lucy."
Meine kleine Schwester saß neben mir im Gras und schaute mich bettelnd aus ihren großen grauen Augen an.

"Na gut, aber nur weil du es bist", erwiderte ich und wuschelte ihr durch die dunklen Haare.

"Gehst du wieder nach da hinten?"
Sie wies mit dem Finger auf die Felswand, die unsere Wiese begrenzte.
"Ja Liv, mache ich."
Wieder entfernte ich mich, bis ich Liv nur noch als kleinen Punkt vor unserem Haus sitzen sah.

Und bevor ich noch etwas sagen könnte, hörte ich schon meine kleine Schwester rufen:
"Lucy, verstehst du mich?"

Nein vielmehr war es tief in meinem Inneren, dass ich ihre Stimme wahrnahm. Denn auf diese Entfernung konnte man sich normalerweise nicht mehr hören. Die Betonung liegt leider auf normalerweise.

"Alles klar Liv, habs gehört, kann ich jetzt zurückkommen? ", schrie ich aus voller Brust über die Wiese.
"Warte noch kurz", dröhnte Livs Stimme wieder in mir. Ein spitzer Schmerz durchzuckte mich.
Ich hörte zwar was Liv sagte, aber mehr wie durch ein inneres Ohr.

"Ich sag dir einen schwierigen Satz und wenn du ihn mir gleich aufsagen kannst, weiß ich, dass du mich wirklich gehört hast.
Also..."
Livs Stimme drang schon wieder überall in mich ein.
Dann spürte ich förmlich durch meine Ohren hindurch in meinem Körper, wie sie tief Luft holte:
"Möge unser Bund auf ewig Bestand haben und den Frieden als unser höchstes Gut wahren!"

Warum um alles in der Welt nahm sie diesen Satz?
War ihr denn nichts Besseres eingefallen?
Diese Fragen beschäftigten mich viel mehr, als der erneute Schmerz, der mit dem Dröhnen von Livs Stimme einherging und von oben bis unten meinen Körper durchfuhr.

Denn das war genau der Spruch, den wir jeden Morgen in der Schule aufsagen mussten. Wir standen gemeinsam auf und preisten den Bund.
Dafür, dass er Abgaben forderte, und im Gegenzug angeblich den Frieden sicherte.
Es herrschte auch tatsächlich Friede, wenn man mal von den Kleinkriegen um Lebensmittel zwischen den verschiedenen Tälern absah.
Aber in Anbetracht dessen, dass unser Tälerbund nach außen hin komplett von Bergen abgeschirmt war und es dementsprechend keine Feinde gab, war die Friedenssicherung geradezu lächerlich.

"Und was hab ich gesagt?", wollte Liv mit einem strahlenden Blick wissen, als ich wieder neben ihr stand.
Es war so angenehm, sie endlich wieder normal durch meine Ohren zu hören und nicht in meinem Inneren, dass mir ein kleiner Seufzer entfuhr.
Dann aber fasste ich mich wieder und versuchte meiner Stimme einen möglichst festen Klang zu geben.
"Das möchte ich nicht wiederholen"
"Aber warum denn nicht? Du sagst es doch sowieso jeden Morgen. Auf einmal mehr oder weniger kommt es doch nicht an, oder?"

Und wie es darauf ankam. Mir freiwillig einmal mehr diesen Satz anhören? Nein, ich glaube eher Liv war diejenige, die noch lernen musste zu unterscheiden was man glaubte und was besser nicht.

"Mmh. Aber du hast mich also gehört, als ich gesprochen habe?"
"Ja Liv, wie gestern auch schon, und vorgestern - und wenn ich so recht überlege, vorvorgestern auch."
Der ironische Unterton in meiner Stimme war nicht zu überhören.
Als ob dieses Hören von einem Tag auf den anderen einfach so verschwinden würde.
Schön wärs.

"Aber warum kannst du mich denn da hinten verstehen?"
Liv schien nicht aufgeben zu wollen.
"Ich weiß es auch nicht.", erwiderte ich resigniert.

Vor vier Tagen hatte ich es das erste Mal gemerkt. Ich kümmerte mich mit Liv um unsere Ziegen. Wir hatten kaum angefangen, da lief sie auch schon zurück zum Haus, um Mum zu verabschieden.
Sie wollte noch runter ins Tal, um zu schauen, ob man Lebensmittel bekommen konnte.
Mum hob Liv hoch und wirbelte sie herum, wie sie es immer tat. Dann setzte sie sie ab und ging ganz nah an ihr Ohr.

"Ich bin heute Abend wieder da mein Sonnenschein, hab dich lieb."
Es war als würden ihre Worte direkt in Sekundenschnelle in meinen Körper eindringen und sich in mir breitmachen. Ich konnte nichts dagegen tun.

Selbst der Kuss, den Liv bekam, hallte in meinem Inneren wider und hörte sich eher wie ein abrutschender Fels an.
Schon da wusste ich, dass ich das Gefühl nicht noch einmal wollte spüren müssen.
So begann ich, um das alles nicht weiter anhören zu müssen, lautstark das einzige Lied zu singen, das den Bewohnern des Tälerbundes erlaubt war:

"Wir gehören zusammen.
Wir sind eine Nation.
Der Bund wird uns führen
Auf rechtem Wege.
Wir sehen der Zukunft
Mit Freude entgegen."

Aber selbst das half nichts.
Jedes Wort der beiden drang in mich ein und durchfuhr mich von Kopf bis Fuß.

Als Mum weg war und meine Schwester wiederkam, erzählte ich ihr sofort alles. Ich war einfach nicht der Typ, der Sachen lange für sich behalten konnte.
Doch in ihrer kindlichen Fantasie hielt sie das Ganze für eine Art Krankheit, die bestimmt wieder weggehen würde.

Und seitdem wollte sie jeden Tag testen, ob ich es immernoch konnte.
Und ich konnte es.
Jeden Tag aufs Neue.

Doch langsam war ich mir nicht mehr so sicher, ob nicht doch mehr dahintersteckte, als ich bisher angenommen hatte. Denn der Tag, an dem ich zum ersten Mal mein neues Gehör entdeckte, war mein sechzehnter Geburtstag.

~~~

Hallöchen,

das ist das erste Kapitel ^-^
Ich würde mich echt riesig über ein paar Kommis von euch freuen!!! XD

Bitte gebt mir Rückmeldung, ob das so okay ist ;)

Ich hoffe die nächsten Kapis kommen bald.
Hab schon ein paar gute Ideen...

Rat der SinneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt