"Dir ist viel daran gelegen, nicht wahr?"
Ich brauchte nicht einmal ja zu sagen, da sprach Nigrus auch schon weiter."Wenn es dir so wichtig ist, dann will ich ihn dir sagen. Ich weiß, dass ich dir eine Freude damit machen kann. Und das will ich tun. Mir ist noch nicht klar, weshalb du meinen Namen unbedingt wissen musst, aber ich sehe, wie sehr es dich danach drängt."
Fast hätte er mir väterlich seine Hand auf die Schulter gelegt, aber im letzten Moment zog er sie zurück.
Nigrus sah mir noch einmal fest in die Augen, wie um seinen Entschluss zu bekräftigen. Ich konnte mir vorstellen, wie viel Überwindung es ihn kosten musste diesen Namen wieder in den Mund zu nehmen.
"Mein Name ist Dalantus. Dalantus. Mein alter Name."
Die Worte kamen langsam und bedächtig. Er wandte seine Augen zur Decke und sah für einen Moment ganz in sich zurückgezogen aus.
Aber diese Ruhe, die von ihm ausging kam nicht bei mir an. Vorher verschwand sie im Raum und sparte mich, wie es aussah, kategorisch aus.Dalantus, Dalantus. Dieser Name sagte mir etwas. Unruhig wackelte ich mit meinen Füßen hin und her. Mein Gefühl hatte mich nicht betrogen. Ich wusste, dass dieser Name von Wichtigkeit war.
Während Dalantus noch immer ganz in seine Gedanken vertieft war, begann es in meinem Kopf zu rattern. Wie kleine Blitze schossen mir Erinnerungen durchs Gehirn, aber keine davon bekam ich zu fassen.
Aber ich war mir ganz sicher, dass es eine geben musste, die mit Dalantus zusammenhing.Aber immer langsamer kamen nun die Blitze und immer weniger tauchten davon auf. Meine Assoziationen zu Dalantus gingen mir aus. Da waren keine mehr, keine Ideen.
Auf einmal kam mir die Luft im Raum dick und drückend vor. Als quetschte sie noch den letzten guten Gedanken aus mir heraus.
Dalantus schien von alldem nichts mehr zu merken. Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und schüttelte stumm den Kopf. Vielleicht bereute er schon wieder mir alles offenbart zu haben.
Aber daran ließ sich nichts mehr ändern.Wieder stieg mir der Duft von Lavendelsäckchen in die Nase, bahnte sich seinen Weg und zerschnitt die Luft wie ein dünner Rauchfaden.
Und das war genau die Hilfe, die ich gebraucht hatte. Dieser Geruch von Heimat. Von Liebe und Geborgenheit.
Es war mein Vater, der einst von Dalantus gesprochen hatte..."Lava, hast du von meinem Bruder gehört?" Mein Papa saß bei Mama und tiefe Sorge sprach aus seiner Stimme.
"Du, du hast einen Bruder?" Ein Schlag auf den Tisch ertönte und ich zuckte zusammen. Fast dachte ich ich würde mein Versteck hinter dem Türrahmen verlassen müssen, aber niemand verließ den Raum.
Niemals schlug Mama auf den Tisch. Nur, wenn sie etwas wirklich verärgerte. Als Papa nicht reagierte, wiederholte sie ihre Frage.
"Hast du einen Bruder?"
Als ich wieder nichts hörte, vermutete ich, dass Papa einfach nur mit dem Kopf genickt hatte. Ich stellte mir vor, wie er jetzt gerade die Arme auf den Tisch stützte und seinen Kopf traurig hineinlegte. Schon seit seiner Ankunft war Papa merkwürdig gewesen.Normalerweise freute er sich immer, wenn er mit seiner Schafherde wieder nach Hause kam, dass er endlich seine Familie wiedersah. Nur heute war die Freude sehr gering ausgefallen. Er hatte mir einen Kuss auf den Scheitel gegeben, meiner Mutter die schlafende Liv vom Arm genommen und stattdessen in meine gelegt. Mit ernster Mine verkündete er, dass wir nun schlafen gehen sollten, weil er Mama etwas Wichtiges sagen wollte.
Natürlich hatte ich gehorcht und die kleine Liv ganz alleine zu Bett gebracht und in ihre Wiege gelegt. Immerhin war Papa wieder da und da wollte ich nicht, dass es gleich Streit gab. Aber trotzdem hatte ich sofort gewusst, dass ich dieses Gespräch anhören musste. Ich hatte eine Schwäche für Geheimnisse. Das hatte Mama mir auch schon gesagt.
Deshalb saß ich also nun mit meiner Decke hinter der Tür und lauschte angestrengt. Was würde ich jetzt dafür geben ein Super-Gehör zu haben, um jedes Wort verstehen zu können?Inzwischen redeten Mama und Papa wieder leiser und es wurde zusehends schwieriger, dem Inhalt zu folgen. Aber Papas tiefe Stimme verstand man immer noch besser als Mamas leise Worte.
"Dalantus, mein Bruder ... verschwunden."
"Ich ... nicht."
"Doch ...meine Pflicht"
"Bitte geh nicht schon wieder."
Die Stimme meiner Mutter wurde plötzlich eine Oktave höher, aber dafür auch lauter. Vor meinem geistigen Auge sah ich eine einsame Träne, die ihr die Wange hinunterlief und Papa, der sie vorsichtig mit seinem Daumen wegwischte."Such ihn nicht, du weißt, wie es im Tal des Todes aussieht. Ich habe Angst." Die Stimme meiner Mutter brach und auch ich fühlte, wie sich Wasser in meinen Augen sammelte und ich mir wünschte, in Mamas Armen in meinem Bett zu liegen.
"Lava, es ist mein Bruder, ich werde ihn suchen müssen." Auch die Stimme meines Vaters wurde nun wieder lauter und klang auf ihre eigene Weise hart und resolut.
"Ich weiß, ich werde dich nicht davon abbringen können. Aber warum hast du mir nie etwas von ihm erzählt?"
"Er ist - er war nie einer Meinung mit der Familie. Er war der Rebell, der, der schon aus Prinzip das Gegenteil, von dem was alle anderen meinten, sagte. Er war es nicht wert, erwähnt zu werden. Mit siebzehn ist er abgehauen und wir bekamen jahrelang kein Lebzeichen mehr von ihm. Irgendwann haben wir dann erfahren, dass er eine Anstellung beim Bund bekommen hat. Wie er das geschafft hat, weiß ich bis heute nicht. Aber nun ist er verschwunden. Aus der Burg. Das kann nicht sein! Niemand verschwindet von dort einfach so.
Es muss etwas passiert sein. Und so viel Ehrengefühl habe ich gerade noch, dass ich weiß, dass ich meinem Bruder zu Hilfe eilen muss."Von Mama kam ersteinmal keine Reaktion. Aber meine blühende Fantasie machte mir weis, dass Mama und Papa sich gerade in den Armen lagen. Gleich würden sie bestimmt aufstehen und ins Bett gehen. Ein beunruhigender Gedanke. Sie würden unweigerlich an mir vorbeilaufen.
Mit einem wachsamen Blick nahm ich meine Decke und machte mich auf den Weg nach oben, immer auf die Stufen tretend, von denen ich sicher wusste, dass sie nicht Knarren würden.Mit einem erleichterten Aufatmen, sah ich Dalantus an. Endlich wusste ich, woher ich diesen Namen kannte und endlich wusste ich, warum mir sein Gesicht bekannt vorkam. Ich saß vor dem Bruder meines Vaters. Niemals hätte ich damals gedacht, dass dieses Gespräch noch einmal so wichtig sein würde. Damals hatte es für mich nur bedeutet, dass mein Vater gleich am nächsten Tag wieder losgezogen war, um seinen Bruder zu suchen. Aber schon nach wenigen Tagen hatte ich vergessen, dass diese Suche ihn in das Tal des Todes führen sollte, nur wegen des verzweifelten Gesichtsausdrucks meiner Mutter wurde ich noch manchmal daran erinnert.
Und nach zwei Wochen kam mein Vater zurück. Mir erzählte er natürlich nicht, ob er seinen Bruder gefunden hatte, denn schließlich sollte ich gar nichts davon wissen. Und dieses Mal hatte ich auch nicht mitbekommen, ob Mama und Papa wieder miteinander geredet hatten.
Außerdem war es mir damals sowieso egal, ob mein Vater nun mit seiner Schafsherde zurückkam oder ob er aus dem Tal des Todes kam. Hauptsache er war wieder da.Nun war mir also ein weiterer Zusammenhang klar und das Wirrwarr, das sich in meinem Kopf gebildet hatte, löste sich ein Stückchen auf.
Mein Onkel, ich saß meinem Onkel gegenüber!
Ob er es wohl wusste? Eigentlich müsste er es spätestens an meinem Namen erkannt haben. Vielleicht war das auch der Grund, warum er mir seinen Namen nicht hatte sagen wollen. Vielleicht war seine Angst zu groß, dass ich diesen schon einmal gehört hatte. Berechtigterweise. Ich stieß hörbar die Luft aus und endlich drehte sich auch Dalantus wieder zu mir um."Du weißt es, oder?"
Eine simple Frage, der eigentlich eine simple Antwort folgen könnte, wenn ich nicht auf einmal das Gefühl gehabt hätte, dass ein einfaches Ja nicht genügen würde. Er würde Erklärungen von mir wollen. Erklärungen, die ich nicht hatte, oder höchstens durch die Informationen aus einem belauschten Gespräch ersetzen könnte.
Ich wollte nicht zugeben, dass genau das eingetreten war, was er hatte verhindern wollen. Ich hatte hinter seine Fassade geblickt und wusste, wer er war.
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Rat der Sinne
Fantasy~ Eine Weile saßen wir so da. Ohne Worte. Und diesmal liebte ich die Stille, die sich zwischen uns breitgemacht hatte. Sie bildete keine Mauer mehr, die uns trennte, sondern vielmehr eine Glocke, die uns umgab und im stillen Einvernehmen miteinander...