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Das musste es sein.
Immer und immer wieder sagte ich mir diesen Satz auf dem Weg zu Dalantus auf. Ich machte mir, um ehrlich zu sein, gerade herzlich wenig Gedanken darüber, dass ich Mr Gurs und all seine Helfer mitten im Saal stehengelassen hatte. Sollten Sie sich selber darum sorgen, wie sie fertigwurden. Meine Angelegenheit war das jetzt nicht mehr.

Schlitternd kam ich vor einer weißen Wand zum Stehen. Geradeaus ging es hier nicht weiter.
Nach rechts?
Nach links?
Rechts.
Links.
Rechts.
Die beiden Worte lieferten sich ein Gefecht in meinem Kopf, bis rechts schließlich gewann. Oder waren wir doch nach links gegangen, als Dalantus mich nach der Ratssitzung mit in seine Räume genommen hatte?
Egal. Meine Entscheidung war gefallen, also wandte ich mich nach rechts. Was ich auch nicht bereuen sollte, da ich wenig später Dalantus' unscheinbare Tür vor mir auftauchen sah.

Nach einem kurzen Klopfen hatte ich die Tür schon aufgerissen und stand halb im Raum. Ich wusste wirklich nicht, wann ich so ungestüm geworden war. Aber ich konnte mich einfach nicht mehr gedulden. Umso schlimmer war es, dass Dalantus an seinem Schreibtisch saß, damit beschäftigt war, einen Brief zu schreiben und mir lediglich mit einer Handbewegung bedeutete, mich auf eben jenen Stuhl mitten im Raum zu setzen, auf dem ich auch das letzte Mal schon gesessen hatte.

Erst schlug ich die Beine übereinander. Dann sah ich Dalantus zu, wie er seine Feder ins Tintenfass senkte, nur um gleich darauf drei seiner Sätze wieder durchzustreichen. Es war ja zum Aus-der-Haut-fahren. Um nicht dabei zusehen zu müssen, wie der Text auf Dalantus' Blatt immer weniger statt mehr wurde, ging ich schließlich dazu über, aus dem Fenster zu gucken. Als Dalantus mir von der Legende der Sehenden und Riechenden erzählt hatte, hatte er schließlich auch die meiste Zeit aus dem Fenster gestarrt. Irgendetwas Interessantes hätte sich dort also befinden sollen, aber außer dem Himmel bot sich mir nichts Erstaunliches. Nur ein paar Wolken schwebten, wie um mich zu provozieren, elendig langsam vorbei.
Also ließ ich mich doch wieder dazu verleiten, meinen Blick ins Innere des Zimmers zu richten. Und siehe da, der komplette Text auf dem Blatt war durchgestrichen. Beinahe wäre mir schon ein leises Stönen entfahren, als ich aber sah, dass Dalantus das Blatt nahm, es zusammenknüllte und sich endlich zu mir umwandte.

"Lucy, meine Nichte, was führt dich hierher?"

So wie er es sagte, klang es schon beinahe, als wäre er mein Vater und nicht mein Onkel. Bei dem Gedanken daran, stieg mir gleich wieder dieser Duft nach Lavendel in die Nase, der mich so an zu Hause erinnerte. Konnte Lavendel beruhigen? Ich hatte keine Ahnung. Aber Zuhause konnte beruhigen. Also nahm ich mir einen kurzen Moment, atmete tief ein und aus, um mich dann wieder Dalantus zuzuwenden, der sich inzwischen auf seinem Sofa niedergelassen hatte.

"Ich - mir ist gerader etwas klargeworden."
"Gerade? Wo warst du gerade?" Dalantus unterbrach mich, bevor ich überhaupt erst richtig anfangen konnte.
"Ich war beim Training." Automatisch verwandelte sich mein Gesicht in eine schuldbewusste Mine und auch Dalantus blickte mich tadelnd an, aber dann meinte er: "Ach was, das ist jetzt auch nicht wichtig. Also sag lieber, was es so dringendes gibt, dass sogar das Training dafür ausfallen musste."

Was hieß schon, dass es sogar ausfallen musste? Das Training war schrecklich gewesen. Lang und anstrengend und die Ratssitzung brannte mir immer noch im Magen. Da hatte man ja wohl jeden Grund, das Training nicht zu mögen.
Aber um mein Gefühlschaos nicht doch versehentlich vor Dalantus auszuschütten, verbannte ich diesen Gedanken in die hinterste Ecke meines Kopfes und konzentrierte mich lieber auf das, was ich eigentlich sagen wollte.

"Ich habe über die Ratssitzung nachgedacht."
"Über das Projekt, die Bundesaktion der Täler?" Auch wenn mein Onkel mich mitfühlend ansah, konnte ich nicht anders, als ihm, bei der Erwähnung dieses arbartigen Namens, einen bösen Blick zuzuwerfen, woraufhin er entschuldigend die Hände hob, als würde er sich ergeben. Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln. Warum schaffte es Dalantus, dass ich in so einer Situation schmunzelte, statt ihm meine Wut um die Ohren zu hauen? Es musste daran liegen, dass er mein Onkel war. Vielleicht hatten die ein ähnliches Gespür für ihre Neffen, wie Eltern für ihre Kinder.

Jetzt musste ich aber erstmal alles loswerden, was mir auf die Seele drückte.

"Ja, es ging auch um das Projekt, oder sagen wir eher, das Projekt war der Grund dafür, dass ich mich so furchtbar aufgeregt hatte." Eigentlich brauchte ich das Dalantus nicht zu erzählen, immerhin war er als Nigrus direkt dabeigewesen, als ich mich furchtbar über das Projekt aufgeregt hatte. Und würde ich mich noch einmal entscheiden müssen, ob ich mich gegen alle Ratsmitglieder stelle, ich würde es ein weiteres Mal tun.
"Aber eigentlich wollte ich mit dir über etwas anderes sprechen."
"Ist es lang?", lächelte Dalantus und bedeutete mir mit einem Kopfnicken mich neben ihn auf das Sofa zu setzen.
"Vielleicht", antwortete ich, konnte ihm nicht mal böse sein, dass er mich schon wieder unterbrochen hatte und setzte mich zu ihm. Jetzt konnte meinen Ausführungen nichts mehr im Wege stehen.

"Weißt du noch, als du mir von der Legende der Sehenden und Riechenden erzählt hast?" Dalantus gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er es sehr wohl noch wisse, aber der Schmunzler, der darauf folgte, ließ mich glauben, dass er mit dem Gedanken viel mehr bei dem Kinnhaken war, den ich ihm unabsichtlich verpasst hatte, als bei dem, was er mir erzählt hatte.
Aber ich ließ mich nicht beirren.
"Du sagtest, der Rat sei gebrochen. Aufgrund verschiedener Ansichten auseinandergegangen. Und schließlich hätten die Sehenden und Riechenden sogar die Burg verlassen. Wutentbrannt, wie ich vermute. Mit dem Vorsatz, all das nicht einfach hinzunehmen."
"Das kannst du laut sagen", warf Dalantus ein und bestätigte mich in meiner Vermutung.
"Und jetzt, nach etwas mehr als einem halben Jahrhundert, wird es immer noch Sehende und Riechende geben. Egal ob es schon jetzt als Legende bezeichnet wird oder nicht. Es gibt sie noch oder?"
"Ja, es gibt sie noch. Einige mögen inzwischen sehr alt sein, aber vielleicht haben sie auch ihre Nachfolger gefunden, die auch sehen oder riechen können. Genauso wie du von Lord Cliffleroy gefunden wurdest, wurden sie vielleicht von den Sehenden und Riechenden gefunden. Doch hier auf der Burg sind keine Fälle bekannt. Aber du kannst davon ausgehen, dass es sie noch gibt."

Und mit einem Mal war mir klar, dass Dalantus schon lange wusste, worauf ich hinaus wollte. Sein andauerndes leichtes Lächeln, seine verschränkten Arme und sein neugieriger Blick. Er wartete darauf, dass ich ihm darlegte, welche Zusammenhänge ich verstanden hatte. Die Zusammenhänge, die er schon lange kannte.

"Es gibt also immer noch Sehende und Riechende. Auch wenn man seit langer Zeit nichts mehr von ihnen gehört haben will..."
"..oder sie einfach totgeschwiegen hat."
"Genau. Und es unter Umständen noch genau die selben Personen sind wie damals. Dann wollen sie noch immer, dass der Bund sich ändert. Sie waren es doch, die nicht mit der Regierungsform der Vorsitzenden, der Hörenden zufrieden waren?" Ich hob meine Stimme am Ende und erhielt sofort eine Bestätigung von meinem Onkel.
"Um es mal ein bisschen stärker zu formulieren", fuhr ich fort, "sie wollen, dass der Bund in dieser Form nicht weiterregiert."

Je länger ich redete, desto mehr spürte ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Auf dem Weg, bald endlich alles zu erfahren und zu verstehen, was mir so lange vorenthalten worden war.
In meiner kurzen Redepause, führte Dalantus meine Gedanken weiter, bis ich sie wieder übernahm.
"Man könnte sagen, der Bund soll gestürzt werden, Lucy."
"Exakt. Und welche Gruppierung gibt es, die den Bund stürzen will?"
Meine rethorische Frage blieb einen kurzen Moment in der Luft hängen, bevor ich sie selbst beantwortete: "Die Volksstimme. Die Volksstimme will den Bund stürzen. Die Volksstimme möchte, dass sich etwas ändert. Die Volksstimme hat immer mehr Anhänger, weil die Menschen immer unzufriedender werden. Und die Anführer der Volksstimme - das sind die Sehenden und die Riechenden. Die Legende der Sehenden und Riechenden ist in der Volksstimme wieder zum Leben erwacht!"
Zufrieden lehnte ich mich zurück und Dalantus legte väterlich seinen Arm um meine Schulter.

"Ich wusste, dass du es eines Tages herausfinden würdest."



Rat der SinneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt