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Wie ein plötzlicher Geistesblitz kam die Gewissheit, dass heute offiziell der richtige Tag war, um einzuschreiten. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und versuchte mühsam meine Vorstellungen zu unterdrücken, die sich mit aller Macht in meinem Kopf ausbreiteten. Noch wollte ich mich zurückhalten, die Sitten einhalten, um mehr Wirkung zu erzielen, Goldkauz nicht unterbrechen.

Lord Forly wollte die Bevölkerung zu Zwangsarbeit zwingen. Zwangsarbeit, die der Bevölkerung nichts bringen würde. Diese Erkenntnis ballte sich in meinem Magen zu einem festen Klumpen zusammen und wuchs mit jedem Detail, das ich hinzufügte.
Warum brauchte man Gemeinschaftsfelder, wenn jede Familie ihre eigenen Felder hatte? Wofür brauchte man Bäume, wenn es überall schon grünte und blühte? Wofür brauchte man neue Straßen, wenn jedes Dorf mit dem anderen verbunden war? Und wofür brauchte man einen Steinbruch, wenn der Bund bereits jeder Familie ein Haus zugeteilt hatte?

Beinahe hatte ich den Eindruck, eben ein solcher Stein aus dem Steinbruch würde mir meinen Magen ausfüllen und gleichzeitig meine Brust zerquetschen. Es war irgendetwas zwischen Traurigkeit und bitterer Enttäuschung all meiner Erwartungen, die ich anfangs noch an den Bund gehabt hatte.

Auch manche andere waren eher überrumpelt als begeistert. Wobei der verbliebene Schmeckende in Rot schon in eine leise Diskussion mit seiner Nigra vertieft war und nicht mal so abgeneigt schien. Kein Wunder, er war schließlich auch der Partner von Lord Forly. Die beiden Fühlenden schauten sich nur fragend an, begannen dann aber auch leise zu beraten.
Und Goldkauz? Der beugte sich nicht etwa zu mir herüber, sondern wandte sich unserem Nigrus zu und begann stattdessen mit diesem zu reden.

Ich fühlte mich schon wieder alleine mit mir selbst und war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob ich mich gleich äußern sollte. Logischem Denken zu Folge wäre es am besten abzuwarten, bis die anderen Sinne sich zum Projekt geäußert hätten und anhand dessen meine Aussage zu überlegen. Auch wenn sich alles in mir drängte, endlich zu sprechen zu beginnen, überließ ich doch dem logischen Denken den Vortritt und zwang mich dazu, mich noch zu gedulden.

Als erstes schauten die Fühlenden wieder zu Goldkauz und signalisierten ihm, dass sie genug untereinander besprochen hatten. Dann folgten auch der einsame Schmeckende.

Normalerweise würde jetzt einer damit beginnen, seine Meinung auszulegen, doch es herrschte Stille im Saal. Mit Unbehagen stellte ich fest, dass ich wahrscheinlich noch hören könnte, wie ein Staubkorn auf dem Boden aufprallte, aber da wurde mir auch klar weshalb. Normalerweise war Lord Forly unangefochten der erste, der seine Meinung darlegen durfte. Und genau diese Meinung fehlte jetzt.

Ich bereute den Gedanken, aber in diesem Moment hätte ich mir tatsächlich gewünscht, dass Lord Forly da wäre und zu allererst seine Meinung kundtun würde. So schauten sich alle stumm an, als mich etwas ganz anderes ablenkte. Mit einem Mal kam mir mein Stuhl viel härter vor und ich spürte, wie mein rechtes Bein einschlief. Mit einem kleinen Schlenkern versuchte ich es zu entspannen, aber selbst diesen Luftzug hörte sich wie ein kleiner Sturm an.

Bevor ich mich auch nur fragen konnte, ob es vielleicht an meiner Gabe lag, dass ich diese Luftzug hörte, hatte ich auch schon das Wort ergriffen, weil ich es nicht mehr aushielt. Dann würde ich halt den Anfang machen.

"Verehrte Mitglieder. Ich möchte meine Meinung zum aktuellen Punkt äußern." Wenigstens an die Formalia wollte ich mich halten, selbst wenn ich schon wieder merkte, wie etwas in mir hochkam. Allein die bildliche Vorstellung von meinen alten Kameraden, meiner Mutter und meiner Schwester, wie sie im Straßenbau halfen, oder noch schlimmer im Steinbruch schufteten, reichte aus, um die Worte nur aus mir herausfließen zu lassen. Ich brauchte sie nicht mehr zu bilden und zu formen. Schon nach zwei Sätzen überließ ich meinem Instinkt die Kontrolle und redete aus meinem Inneren heraus. Einmal. Einmal würde ich die Wahrheit sagen.

"Das Projekt ist eine Idee, wie ich sie noch nie gehört habe." Mir war die Zweideutigkeit dieses Satzes bewusst, aber ich wollte ihn so stehen lassen, ersteinmal weiterreden.

"Es ist eine unglaubliche Idee, die nicht ohne Folgen bleiben wird.
Haben sie sich schon einmal in eine Person aus der Bevölkerung hineinversetzt?" Noch war meine Stimme ruhig und gefasst, aber ich merkte, wie meine Worte immer schneller wurden und ich aufpassen musste, dass ich nicht zu schnell wurde. Alle sollten es hören und alle sollten es verstehen. Jetzt wollte ich deutlich werden. Es musste doch ein Rest normaler Mensch in ihnen übrig geblieben sein, der sie verstehen ließ, wie andere Menschen sich bei solchen Entscheidungen fühlten!

"Wie fänden Sie es, wenn auf einmal ein Scherge vor ihrer Haustür steht und sie mit in den Steinbruch schleppt? Wie fänden Sie es, wenn jemand Sie zum Bäumepflanzen abholt, obwohl es unnötig ist, überhaupt Bäume zu pflanzen?"
Ja, ich wusste nicht, ob die Bevölkerung von Schergen abgeholt würde, aber in meiner Vorstellung war alles perfekt. In meinem Kopf verschmolzen die Bilder des Schergen, der mich selbst abgeholt hatte, der mich geschlagen und misshandelt hatte, mit neuen Bildern. Mit meiner Mutter, die von einem mindestends eben so furchteinflößenden Mann mitgezogen wurde, von Liv, die schreiend an unserer Tür stand. Von ganzen Dörfern, die auf einmal das Joch der Knechtschaft auferlegt bekamen.

"Wie fänden Sie es, wenn sie unbezahlte Arbeiten für den Bund verrichten müssten und dafür ihre eigene Arbeit vernachlässigen müssten? Wenn Ihnen die Grundlage zum Leben fehlt, weil der Bund sie knechtet? Die Menschen haben kaum genug zum Überleben. Es mangelt an allem. Besonders im Winter. Aber im Winter brauchen wir weder Straßen, noch Bäume, noch einen Steinbruch. Im Winter brauchen wir Nahrung, unsere Familien und Wärme. Keine Todesangst."
Ich hörte mich selber, wie meine Stimme dramatisch klang und ich wirklich genau so empfand. "Der Gedanke, eventuell nicht zu überleben ist fast so schrecklich wie die Gewissheit zu sterben. Sie haben das noch nie denken müssen!
Verdammt nochmal."

Das war mir einfach so herausgerutscht. Hatte ich mich gerade noch um eine gute Wortwahl bemüht, so war es jetzt ganz um mich geschehen. Ich spürte meinen Herzschlag in meiner Schläfe und merkte tatsächlich, dass ich mich noch immer zurückhielt. Doch ein kurzer Blick zu den anderen reichte, um zu sehen, dass mir die meisten schon jetzt geschockt entgegenblickten. Aber noch unterbrach mich keiner. Also weiterreden. Nicht beirren lassen und das loswerden, was ich loswerden wollte.

"Sie machen die Menschen kaputt." Meine Stimme wurde immer lauter und in einem Anflug von totaler Selbstsicherheit warf ich alle Vorsicht über Bord und redete genau so, wie die Sätze in meinem Kopf bereitlagen.
"Sie zerstören Leben, Sie zerstören Familien. Alles geht kaputt. Wie viele Arbeiter sind denn schon in den Steinbrüchen umgekommen, als die Häuser für den Bund gebaut worden sind, heh? Lernt man das nicht in den ach-so-tollen Schulbüchern, dass sich fast hundert Männer geopfert haben? Geopfert haben sie sich, dass ich nicht lache. Zum Wohl des Bundes. Ein schlechter Scherz ist das." Ich stieß tatsächlich ein Lachen aus, das mir im Nachhinein fast irre vorkam.

"Wollen Sie die Bevölkerung aussieben? Nur die nötigsten behalten, die sie brauchen, um den Adeligen ein schönes Leben zu machen? Ist alles nur dafür, dass die etepetete Previligierten genug zu Essen haben?" Erschöpft rang ich nach Atem und sah, wie Goldkauz sich wieder erhob. Und mich aus gar nicht mehr stumpfen Augen anfunkelte.

Ich war zu weit gegangen. Mit einem Mal fiel dieses Hochgefühl von mir ab und es war, als würde eine Stütze verschwinden, die mich aufrechtgehalten hatte. Was ich da gerade gesagt hatte, war eigentlich nur ein Gedanke, der mich manchmal heimgesucht hatte, wenn ich wütend war. Aber es war nichts zum Aussprechen gewesen. Es war auch eigentlich nichts, was ich wirklich glaubte. Es war übertrieben und nicht angemessen. Es waren persönliche Gedanken, die sich nur einschlichen, wenn ich meinem Ärger einmal Luft machen musste. Ich glaubte nicht, dass der Bund so weit ging Menschen zu töten. Ich glaubte es nicht. Es war alles nur meiner Wut entsprungen.

Noch bevor ich mir überlegen konnte, ob ich aus dem Raum rennen sollte, oder mich einfach wieder hinsetzen, hatte Goldkauz seinen Stuhl umrundet und fasste mich wie ein Schraubstock am Arm. Er zog mich ganz nah zu sich ran. Mein Kopf hörte auf der Höhe seiner Schulter auf. Dann kam er mit seinem Mund ganz nah an mein Ohr und raunte mir etwas zu. Doch ich verstand nur Rauschen und vor meinen Augen begannen kleine Sterne zu tanzen. Dann zog Goldkauz mich aus dem Raum.

Rat der SinneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt