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Nein, ich konnte und wollte Lenius nicht mehr in die Augen sehen. Mir waren meine Gedanken am Ende seiner kleinen Führung noch immer peinlich. Da konnte man nur froh sein, dass man Gedanken nicht lesen kann. Beziehungsweise, ich hoffte, dass man Gedanken nicht lesen konnte. Wer weiß was alles möglich war, wenn es schon Leute gab, die Sinne beherrschten.
Aber Lenius konnte keine Gedanken lesen. Dessen war ich mir sicher. Ansonsten würde er jetzt nicht mit diesem aufrichtigen Lächeln durch die Zimmertür schauen und mich fragen, wo ich denn bliebe und ob es mir nicht gut ginge.

Doch, natürlich ging es mir gut, mir war es nur sehr unangenehm, wie meine Gefühle mit mir durchgegangen waren. Irgendjemanden brauchte man doch in seiner Nähe, oder nicht?

Mit einem Kopfnicken bestätigte ich Lenius, dass ich gleich kommen würde. Er trat wieder auf den Flur hinaus und wartete, bis ich mir die Haare noch schnell zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Als ich dann mit klackernden Absätzen aus der Tür trat, konfrontierte ich ihn direkt mit meiner Frage, die ich schon den ganzen Morgen hin und hergewälzt hatte.

"Fühlst du dich manchmal alleine auf der Burg? Oder hast du Familie hier?" Ich wusste, dass seine Situation im Prinzip ganz ähnlich wie meine war. Nur, dass er Bediensteter war, und ich nun zum Rat gehören sollte. Ein kleiner Unterschied, aber ein bedeutsamer, wie ich mit einem ironischen Lächeln bemerkte.

Lenius deutete das Lächeln wohl eher als Aufforderung, endlich eine Antwort zu geben: "Meine Familie lebt nicht auf der Burg. Sie besitzt eine kleine Hütte im Tal. Und meine Schwester ist auch dort", fügte er mit leiser Stimme hinzu. Vielleicht war das seine Art mir mitzuteilen, dass er sich auch alleine fühlte. Tatsächlich hatte ich ihn auch noch nie mit einem anderen Schergen zusammen gesehen. Aber meine Erfahrung sagte mir, dass kaum ein Scherge so freundlich war wie Lenius. Nur ungern dachte ich daran wie ich von einem etwas gröberen Schergen zur Burg geschleppt wurde. 
Und ich vermutete, dass die Freundlichkeit dieses einen Schergen etwa der der Mehrheit der anderen entsprechen dürfte. Zumindest von dem her, was man im Dorf gehört hatte.
Aber Lenius war anders. Was mich zu der Frage brachte, warum er eigentlich Scherge geworden war. Er war weder kräftig gebaut, noch sah er aus, als würde er gerne Befehle erteilen oder andere bevormunden wollen.
Als ich ihm die Frage mit einem schüchternen Blick stellte, sah ich sofort das begeisterte Funkeln in seinen Augen, das mir Antwort genug war. Ich verstand zwar nicht, warum er so für das Schergendasein schwärmte, aber offensichtlich war es eine nicht anfechtbare Tatsache, wie mir bei seinen sofortigen Ausführungen klarwurde.

"Schon als kleines Kind habe ich Schergen beobachtet und nachgeahmt. Mir gefiel die Art, in der sie behandelt wurden. Mit Respekt. Ich war immer der Jüngste in unserer Familie und genau so kam ich mir auch immer vor. Wie der Jüngste und Kleinste." Lenius machte eine ausladende Handbewegung Richtung Boden, um mir zu zeigen, für wie klein er gehalten wurde. Während der nächsten Sätze über den Anbau auf dem Hof, wo er immer die Drecksarbeit hatte machen müssen, schaltete ich schon wieder ab und dachte darüber nach, wie viel Lenius mir über sein Privatleben erzählte, obwohl er vor ein paar Tagen noch furchtbar gestelzt und distanziert mit mir geredet hatte.
Ich glaube in der kurzen Zeit waren wir richtige Freunde geworden. Einfach, weil wir einander brauchten.

Schweigend gingen wir nebeneinander her und ich war mir nicht sicher, ob ich das Schweigen mit Reden füllen sollte. Aber wenn, dann wäre es sowieso nur sinnloses Geplapper geworden. Und mir war momentan auch nicht sehr nach Reden zu Mute. Denn je näher wir dem Speisesaal kamen, desto lauter und schmerzhafter wurden auch die Stimmen in mir. Ich versuchte mir ja einzureden, dass sie seit dem Training mit Mr Gurs schon weniger stark geworden waren als an den anderen Tage, aber leider blieb das ein Einreden und keine Tatsache.

Da packte mich Lenius' Hand grob am Unterarm und zog mich nach rechts. Fast wäre ich gegen die Wand getaumelt, als ich die Nische neben mir sah und hinterherstürzte. Ich übersah den Sockel einer Skulptur und fiel mehr in die Nische, als dass man von Betreten hätte reden können. Eingerahmt von den zwei silbernen Statuen, die mich mit aufreizendem Gesichtsausdruck anstarrten, stützte ich mich an ihnen ab und rieb mir meine schmerzende Schulter.

Dann wandte ich mich zu Lenius um, der nur seinen Finger an die Lippen legte und mir verschwörisch in die Augen blickte. Ziemlich perplex machte ich das, was er wollte und stand einfach still.

Es war so viel Tumult in mir, dass ich erst jetzt die Schritte heraushören konnte, die sich uns kontinuierlich näherten. War das der Grund, warum wir gerade dicht an dicht in dieser Nische hockten? Normalerweise begegneten wir immer Leuten auf dem Flur doch noch nie waren wir in irgendwelche verstaubten Nischen mit Silberstatuen gesprungen.

Aber als sich dieser verschmitzte Audruck in seinen Zügen noch verhärtete, wurde ich langsam misstrauisch. Wir waren nicht nur wegen der näherkommenden Person hier drin. Da steckte ein perfider Plan dahinter.

Endlich kam die Person ganz nah an unser Versteck heran. Lenius musste sie sehr früh gesehen haben. Aber wir waren auch noch nicht weit gekommen und befanden uns noch in einem langgestreckten Flur, der zur Wendeltreppe eine Etage tiefer führte. Das musste wohl der Grund sein, warum Lenius derjenige war, der sie zuerst gesehen hatte. Denn eigentlich sollte ich die sein, die vor solchen Situationen warnen konnte.
Als die Person vorbei lief, konnte ich nur eine Uniform sehen, mit dem aufgedruckten Symbol des Bundes darauf.
Ein Scherge also. Wir hatten uns vor einem Schergen versteckt! Ich schüttelte den Kopf und war mir nun absolut sicher, dass mehr hinter Lenius Plan steckte, als ich dachte.

Meine innere Uhr jedenfalls sagte mir, dass wir uns beeilen sollten zum Frühstück zu kommen. Wenn wir nicht so oder so schon hoffnungslos zu spät waren.
Aber Lenius schien da - als hätte ich es vorausgesehen - ganz andere Pläne zu haben. Was auch immer er vorhatte, zum Frühstück schien er jedenfalls nicht mehr zu wollen. Er stieg als erster wieder aus der Nische heraus, reichte mir galant seine Hand, um mir über den Sockel der Statue hinüberzuhelfen. So viel zum Thema ich schaffe es alleine über einen Sockel zu steigen. Auch wenn Lenius sich nichts anmerken ließ, war ich mir sicher, dass mein Gesicht etwa die Farbe von Tomaten angenommen hatte, wenn nicht sogar von Rotkohl. Trotzdem ergriff ich seine Hand und stieg, ohne sie wirklich zu benutzen, über den Sockel in den Flur. Etwas verzögert ließ Lenius sie los. Vielleicht war das aber auch nur Einbildung. Dann jedenfalls lauschte ich gespannt dem, was er vorhatte.


Rat der SinneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt