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"Lucy, was ist los mit dir?
Deine Hände zittern ja richtig.
Jetzt iss doch endlich was.
Bist du wirklich so krank mein Schatz?"
Meine Mutter strich mir sanft über die Hand die den immer noch leeren Löffel umklammerte.
War man krank, wenn man nicht nur die Worte seiner Mutter hörte, sondern sich gleichzeitig in seinem Inneren alle Stimmen der Nachbarn zu einem riesigen Dröhnen vermischten?

Ich war völlig am Ende.
Seit einer Woche vernahm ich andauernd Stimmen in mir.
Es war einfach nur noch zermürbend. 
Der einzige Ort, an dem ich halbwegs meine Ruhe hatte, war hoch oben auf dem Berg der am Ende der Wiese hinter der Felswand aufragte. Bis dahin drangen die Worte nicht vor.
Ich zog mich nun oft dahin zurück, um den Stimmen zu entkommen.
Manchmal kam Liv mit und nahm mich in den Arm.

Auch wenn sie nicht verstand was ich fühlte, sie war für mich da.
Sie wusste, warum ich seit vier Tagen nicht mehr zum Unterricht erschienen war.
Die Schüler in meinem Klassenraum waren noch nah genug dran, damit ich sie normal hörte. Aber alles aus den Räumen neben uns erfüllte meinen Kopf und selbst meinen Körper, bis ich das Gefühl hatte er würde zerspringen. 

Montags schon habe ich es nach zwei Stunden nicht mehr ausgehalten und vorgegebenen mir sei schlecht, um nach Hause zu dürfen.
Als ich, vor lauter Geräuschen schwankend und zitternd, vor meiner Lehrerin stand, ließ sie mich tatsächlich nach Hause gehen.
Auch wenn der Bund maximal drei Krankheitstage im Jahr erlaubte und dies bereits mein dritter war.

Ich schob langsam einen Löffel Suppe in meinem Mund, die meine Mutter aus dem Wenigen gekocht hatte, was wir noch hatten.
Ein paar undefinierbare Blätter schwammen darin herum.
"Bist du sicher, dass alles gut ist?
Geht es dir wieder nicht gut Lucy?"
"Mmh"
"Du kannst ruhig aufstehen und hochgehen", bot Mum mir an.

Langsam erhob ich mich und schob meinen Stuhl zurück. Ich hielt mir den Kopf. Es fühlte sich wieder so an, als würde er zerplatzen.
Ich schlich die grob behauene Treppe zu Livs und meinem Zimmer hinauf.
Unser Haus war klein. Aber es reichte gerade so für meine Eltern, meine Schwester und mich.
Dann ließ ich mich auf unser Bett fallen und vergrub mein Gesicht in der Decke. Seit ich denken konnte hatten Liv und ich in diesem Bett geschlafen, das mein Vater einst gebaut hatte.                     

Mein Körper fühlte sich leer an. Wie ein riesiger Resonanzraum für all diese Stimmen.
Ich zuckte zusammen.
Das Kind unserer Nachbarn hatte laut aufgeschrien.
"Ich esse das  nicht weiter Mama!
Das ist widerlich", fühlte ich schon wieder diese Worte.
Allen ging es so wie uns. Niemand hatte mehr etwas Richtiges zu essen.
Aber noch schlimmer als der Hunger, der sich nun doch wieder in mich hineinfraß, war diese Leere in mir. Als wäre ein Stück von mir herausgenommen, und durch die Worte anderer Leute ersetzt worden.
Leer oder doch voll von Stimmen.
Ich wusste es nicht.

Ich entschied mich wieder nach unten zu gehen, um mich durch eine richtige Unterhaltung von dem Geschrei in mir abzulenken.        
Als ich herunterkam war der Tisch abgeräumt.
Ich ging vor die Tür und sah Liv, wie sie Mum beim Abspülen der Schüsseln half.
Sie sahen sich so ähnlich, wie sie beide mit gebeugtem Rücken über der Waschschüssel standen.
Doch Liv war noch deutlich kleiner als Mum.
Aber wie ein Spiegelbild.
Ihre langen braunen Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern und genau wie meine Mutter musste sie aufpassen, dass sie ihr nicht ins Wasser gerieten.

Ich hätte noch stundenlang dastehen und zusehen können, wie die beiden eng aneinandergeschmiegt die Schüsseln wuschen, wäre da nicht mein kleines Problem gewesen.
Ich musste unbedingt wieder auf den Berg. Einfach nur, um eine Weile Funkstille zu haben.
Und ich wollte, dass Liv mit mir kam.
Die letzte Woche war einsam gewesen. Ich hatte alleine zu Hause im Bett gelegen und gehofft, dass bei den Nachbarn keiner zu Hause war. 
Meine Mutter war ganz normal jeden Tag ins Dorf gegangen, um dort Arbeiten für andere Leute zu verrichten. Sonst würden wir das nötige Geld zum Leben niemals zusammen bekommen.
Mein Vater war fast nie da.
Er kümmerte sich um unsere Schafe und trieb sie weit in die Berge hinein. Manchmal kam er abends gar nicht mehr zurück, sondern schlief sogar bei ihnen.
Ich schaute meine Schwester noch eine Weile von hinten an. Sie hatten mich immer noch nicht bemerkt. 
Möglicherweise waren die beiden aber auch in ihre tägliche Meditation vertieft.
Sie meinten es würde einem helfen, mit seiner Situation besser zurechtzukommen.
Vielleicht sollte ich es auch mal versuchen.
Nur wie sollte man bitte zu Ruhe kommen, wenn es keine Ruhe mehr gab?

Ich entschloss mich doch meine Schwester jetzt sofort zu fragen, ob sie mitkam.
"Du Liv", fragte ich vorsichtig.
Sie fuhr herum und meine Mutter gleich mit ihr.
Die Sorge um mich stand ihr sofort wieder ins Gesicht geschrieben.
"Lucy, wie geht es dir? Willst du nicht doch im Bett bleiben? Du siehst wie ein Stück weiße Wand aus.
Komm mal her zu mir"
Ich machte einen wackeligen Schritt auf sie zu und sie schloss mich in ihre Arme. Ich ließ meinen Kopf auf ihre Schulter sinken und atmete tief ihren Geruch nach frisch gepflückten Kräutern ein.
Es war wunderbar.

Ich wusste gar nicht wie sehr ich es vermisst hatte in den Armen meiner Mutter zu liegen.
Ich drückte sie fest an mich und merkte, wie ein Schluchzen sich seinen Weg durch meine Brust bahnte.
Ich konnte nicht anders.
Leise kullerten mir die Tränen über die Wangen und versickerten in dem dicht gewebten Kleid meiner Mutter.
Mum hielt mich fest.
Einfach so. Ohne Worte.
Und es tat gut.

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Hi ihr Lieben,
da bin ich wieder mit einem neuen Kapitel :-D
Es wäre wirklich super, wenn ihr schreiben würdet, ob es euch bis hierhin gefällt, oder ob ich etwas ändern soll.
Das würde mir echt weiterhelfen ;)

Rat der SinneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt