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Hinter dieser Ecke musste sie sein, die kleine unscheinbare Tür. Endlich hatte ich sie erreicht.
Ich stand am Ende des langen Ganges an der Nordseite der Burg. Hier war alles etwas spärlicher eingerichtet. Es standen weder Vasen auf kleinen Schränkchen, noch bedeckten Teppiche die Wände rechts und links neben mir. Stattdessen umgaben mich glatte schmucklose Wände, die mir fast das Gefühl gab, nicht am richtigen Ort zu sein. Waren hier nicht viele Verzierungen unter der Decke gewesen, auf die Lenius mich noch aufmerksam gemacht hatte? Langsam hob ich meinen Kopf zur Decke. Wenn die hölzernen Figuren hier nicht hingen, hätte ich mir den ganzen Ausflug auch sparen können. Das würde unweigerlich bedeuten, dass ich am falschen Ort war.
Aber nichts dergleichen bestätigte sich. Der schwache Mondschein fiel durch ein kleines Fenster und ließ die Figuren kantig aus ihrer Umgebung hervortreten und sie so wirken, als würden sie schon jahrhundertelang am diesem Platz hängen. Mit seinem kläglichen Schein hüllte der Mond alles in ein bleiernes Licht. Immerhin waren gerade keine Wolken mehr vor ihn geschoben. Das konnte meiner Aktion nur helfen. Nachdem ich nun überprüft hatte, ob es wirklich die richtige Tür war, die ich da gefunden hatte, fasste ich langsam an die Klinke. Was, wenn der Raum verschlossen war? Was, wenn direkt hinter der Tür ein Scherge stand, um unliebsame Besucher wie mich von diesem Ort fernzuhalten? Ich fühlte, wie der anfängliche Mut einer eiskalten Faust Platz machte, die langsam mein Herz umschloss.

Noch einmal drehte ich mich um und vergewisserte mich im blassen Licht, dass auch wirklich keiner hinter mir den Flur entlang kam. Zur Sicherheit horchte ich noch einmal in mich hinein. Doch auch in meinen Inneren vernahm ich nicht den leisesten Hauch eines Geräusches. Also war wohl kein Schergen hinter der Tür.

Die Luft war rein. In einem kleinen Anflug von Entschlossenheit wollte ich die Klinke hinunterdrücken. Aber was sollte ich tun, wenn mich hinter der Tür etwas erwartete, dass ich nicht erwartete? Weglaufen würde nicht gehen. Der einzige Weg, den ich finden würde, ohne in tausend Sackgassen zu geraten, war der durch den Trakt der Adeligen. Und außerdem konnte es doch sein, dass ein Mensch sich so leise verhielt, dass ich ihn selbst durch meine Gabe nicht wahrnahm, oder etwa nicht?

Nein, ich konnte hier nicht ewig herumstehen und mir die schlimmsten Szenerien vor Augen führen. Früher oder später würde ich etwas tun müssen. Und Zurücklaufen war definitiv keine Option. Da war es wahrscheinlich schon weniger gefährlich jetzt endlich diese Tür zu öffnen. Meine Faust verkrampfte sich um die Klinke. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und schloss die Augen. Dann drückte ich die Klinke herunter und öffnete in der selben Bewegung die Tür. Sie war nicht verschlossen. Glück gehabt. Aber falls mich etwas erwartete, würde es mir jetzt genau gegenüber stehen. Ich öffnete die Augen und schaute durch die weit geöffnete Tür. Nichts war zu sehen. Nichts stand mir mehr im Weg. Mit einem kleinen Freudenhüpfer übertrat ich die Schwelle. Und musterte den vor mir liegenden Raum. Nein eher den Saal sollte man sagen. Denn sein Ende lag bestimmt fünfzig Meter von mir weg auf der anderen Seite. Jetzt bei Dunkelheit strahlte der Raum einen noch mystischeren Flair aus, als er ohnehin bei Tageslicht schon gehabt hatte. Hohe Regale säumten alle Wände und erstreckten sich in mehreren Etagen bis hin zur kuppelförmigen Decke. In der Mitte des Raumes standen weitere dunkle Regale, die den Raum in ein wahrhaftes Labyrinth unterteilten. Ein dicker Wälzer reihte sich an den nächsten und ließ die Regale eher wie massive Wände wirken.

So bedrohlich die Dunkelheit auch wirken mochte, so sehr freute ich mich auch.
Ich befand mich in der Bibliothek des Bundes!
Nein, nicht nur das. Ich hatte mir als Normalsterbliche heimlichen Eintritt zu dieser riesigen Sammlung verschafft. Nun gut, so normal sterblich war ich ja scheinbar auch nicht. Aber was tat das jetzt schon zur Sache? Jetzt galt es ersteinmal Informationen zu beschaffen. Informationen über die 'Volksstimme'. Ich musste unbedingt wissen was das war. Es schien ungemein wichtig zu sein, und vor allem geheim. Nur kaum war ich dabei einen Punkt auf meiner imaginären Liste zu bearbeiten, kam auch schon der nächste dazu. Das Gespräch von vorhin. Noch immer saß mir der Schreck in den Knochen, wenn ich daran dachte, wie Lord Sergey aus dem Raum gestürzt war und mich um ein Haar entdeckt hätte.
Aber das Gespräch hatte mich auch unglaublich neugierig gemacht, wie ich jetzt im Nachhinein feststellte. Welche Entscheidung könnte von solch einer Dringlichkeit und Wichtigkeit sein, dass sie das Wohl des ganzen Bundes gefährdete? Das war eindeutig eine weitere Sache, der ich auf den Grund gehen sollte. Aber dazu würde ich sicherlich keine Informationen in Büchern finden. Jetzt sollte ich mich lieber darauf konzentrieren ein Buch zu finden, was sich mit der 'Volksstimme' beschäftigte.

Ich schritt langsam die Regale ab und ließ meine Fingerspitzen über die Buchrücken gleiten. Ich spürte förmlich die Erhabenheit, die von diesem Raum ausging. Als ich Daumen und Zeigefinger aneinanderrieb, fühlten sie sich mehlig und trocken an. Ein leichtes Lächeln schlich sich in mein Gesicht. Ich verspürte eine Zugehörigkeit zu diesem Raum, so als hätte ich endlich nach Hause gefunden. Dabei hatte ich bis vor nicht allzu langer Zeit gar nicht viel mit Büchern zu tun gehabt. In der Schule hatten wir lesen und schreiben gelernt, aber nicht mit Büchern, sondern lediglich mit Sätzen, die an die Tafel geschrieben wurden. Und zu Hause besaß ich keine Bücher. Niemand konnte es sich leisten, und wo sollte man sie auch herbekommen?

Aber bevor doch noch eine Wache kam, sollte ich mich lieber beeilen statt über meine Kindheit nachzudenken und mich jetzt um das Buch kümmern. Ich beugte mich ein wenig herunter, um den Buchtitel vor mir zu lesen. Ich kniff die Augen zusammen. Das wenige Licht des Mondes ließ die Buchstaben nur schwach hervorleuchten. Aber immerhin sah man sie überhaupt.
"Traditionen des Bundes" lautete der Titel des Werkes. Eindeutig nichts, was mich interessierte. Ich sah das Buch daneben an. Es war groß und breit. Irgendwie war ich froh, als ich sah, dass es im Titel um Bewahrung der Traditionen ging und ich den Wälzer nicht würde lesen müssen.
Aber schon zwei dicke Bücher später wurde mir klar, dass ich mit dieser Technik nicht weiterkommen würde. Wie sollte ich all die Titel der zehntausenden Bücher jemals lesen? Ich legte meinen Kopf in den Nacken und ließ meinen Blick bis zum oberen Ende der Regale gleiten. Sie waren so hoch, dass ich den oberen Bereich nichtmal würde erreichen können. Ich stieß einen Seufzer aus. War jetzt doch alles umsonst gewesen? Das durfte doch nicht wahr sein. Ich beschloss trotzdem weiterzusuchen. Die alten Wälzer schienen mich inzwischen mehr höhnisch als wohlwollend anzuschauen. Doch der nächste Titel brachte mir immerhin die Gewissheit, dass die Bücher nach Themen sortiert waren. Alle Titel, die ich bis jetzt entziffert hatte, handelten von verschiedensten Traditionen und allem, was damit zusammenhing. Wenn ich Glück hatte, fand ich ein Themenfeld, in das meine 'Volksstimme' passen würde.
Was könnte dieses Wort bedeuten und zu welchem Themenfeld gehörte es wohl? Ich fand es klang - wie - wie der Name einer Zeitung! Und wenn ich mich nicht täuschte gab es eine Art Zeitung, die immer den führenden Adeligen in den Dörfern gebracht wurde. Ich fasste ein wenig neuen Mut. Zeitungen sollte ich finden können, sofern es sie denn gab. Ihre Form würde mich direkt zu Ihnen führen. Ich richtete mich auf und lief zielstrebig von der Eingangstür weg, weiter in den Raum hinein. Meine Schritte hallten unnatürlich laut in dem großen Saal wider, als ich durch die Gänge aus Bücherregalen schritt.

Am Ende meines Ganges blieb ich stehen. In welche Richtung sollte ich mich zuerst wenden? Vor mir verlief eine weitere Regalwand, die fast noch höher schien, als die vorherigen. Und rechts und links erstreckte sich jeweils ein schmaler Gang, der bis zur anderen Seite des Raumes verlief. Nach kurzem Zögern nahm ich den linken. Auch wenn ich mich nur so entschied, weil die linke Hand meine starke war. Ich zuckte mit den Schultern, nach irgendeinem Kriterium musste man ja schließlich gehen. Während ich lief, ließ ich meinen Blick zuckend von rechts nach links wandern, um auch ja keinen Zeitungsstapel zu verpassen. Aber statt das Zeitungen auftauchten, schienen die Bücherregale lediglich immer weiter zusammenzurücken und die Dunkelheit sich immer mehr zu verdichten.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Einmal. Zweimal.
Es waren alles nur Bücher, nichts vor dem man sich fürchten musste. Und eigentlich hatte ich sie gerade doch noch so anziehend gefunden. Ich hob einen Finger und fuhr wieder über die Buchrücken. Aber diesmal stellte sich kein Hochgefühl ein. Ich fühlte mich nur wie meine Mutter, die mit dem Finger über die Kommoden fuhr, um zu testen, ob sie schon wieder putzen musste.
Es half alles nichts. Ich musste weiter. Mit energischen Schritten durchquerte ich weiter den Gang.
Und als sich schon das nächste Regal vor mir in die Höhe hob, sah ich sie endlich. Auf einmal fühlte ich mich wieder ganz leicht und auch die Bücherregale schienen in ihre alte Position auseinanderzugleiten. Ich beschleunigte meine Schritte ohne noch auf die Lautstärke zu achten. Direkt vor mir auf den untersten zwei Regalbrettern lagen Stapel um Stapel von Papier. Das mussten die Zeitungen sein!

~~~

Da kommt das nächste Kapi...
tatata

Und ich hätte da auch noch so eine Frage *ehem*
Habt ihr beim Lesen das Gefühl, dass die Atmosphäre ausreichend beschrieben ist und man sich da gut reinversetzen kann?
Da bin ich mir nämlich nicht so sicher...
Ich würd mich über ein paar Antworten von euch freuen^^

Rat der SinneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt