"So, und nun beginnen wir mit dem Training."
Mr Gurs hatte sich beruhigt und erhob sich nun von seinem Stuhl.
Welches Training?
"Du musst trainieren, damit deine Gabe stärker wird und du sie besser kontrollieren kannst", beantwortete Mr Gurs meine Frage ohne, dass ich sie jemals gestellt hatte.
Das waren ja gute Neuigkeiten. Man konnte also etwas an den Schmerzen ändern. Na dann mal los. Ich war bereit:
"Gut, dann lass uns anfangen."
"Beschreibe mir erst einmal was du wahrnimmst. Denn bei jedem äußert sich die Gabe etwas anders."
"Also sobald ich jemanden nicht mehr normal hören kann, weil er zu weit entfernt ist, dringen die Stimmen in mein Inneres ein. Ich weiß nicht wie sie dahinkommen, aber es fühlt sich an, als würden sie mich von innen zerschneiden.
Aber ab einer bestimmten Entfernung nehme ich nichts mehr wahr. Absolut nichts. Das ist so entspannend, das können Sie sich gar nicht vorstellen."
Wieder dieser abwesende Blick. Ich wusste gar nicht, dass es Menschen gab, denen man ansah, dass sie konzentriert nachdachten.
Mr Gurs drehte sich um und ging zu einer schwarz bemalten Wand. Er nahm eine Art weißen Stein und fing an einen großen Kreis auf die Wand zu malen. Darin befand sich ein weiterer Kreis. Und ganz in die Mitte malte er eine Figur mit Strichen als Arme und Beine und einen Ball als Kopf.
Die arme Wand.
Dann schaute er mich an und bedeutete mir, näher zu kommen. Ich trat vorsichtig ein paar Schritte heran während ich mir überlegte, ob so wohl die Höhlenmalereien der Steinzeitmenschen ausgesehen haben."Also, schau her, das bist du."
Er deutete auf das Männchen. Auch das noch. Da hatte er mich aber gut getroffen - räusper.
"Alles bis zur ersten Kreislinie hörst du normal, wie jeder andere auch."
Ich nickte zustimmend.
"Der nächste Bereich zwischen den Linien ist der kritische."
Ich glaube ich hatte sein Modell direkt verstanden. War ja auch nicht so kompliziert.
"Dort nimmst du die Stimmen in deinem Inneren wahr. Der letzte Bereich ist außerhalb des letzten Kreises"
Er wies mit einer Handbewegung auf den Rest der Tafel.
"Von dort aus können dich keine Geräusche mehr erreichen. Du bist also abgeschirmt.
Unser Ziel ist es den Bereich zwischen den Kreisen zu vergrößern, sodass du mehr Möglichkeiten hast, die Stimmen wahrzunehmen."
Was sollte das denn bitte? Ich wollte nicht noch mehr Schmerzen haben. Ich dachte darum ginge es im Training.
"Warum soll ich noch mehr Stimmen wahrnehmen als vorher? Wo liegt da der Sinn?", fragte ich ihn und hörte selbst die leise Verzweiflung aus meiner Stimme heraus.
"Das wirst du schon noch erfahren. Und was die Schmerzen angeht, daran arbeiten wir."
Auf einmal klang seine Stimme gar nicht mehr so weich wie zuvor.
Doch als wäre ein Schalter umgelegt worden, fuhr er danach wieder in normalem Ton fort: "Lass uns nun endlich mit den Übungen beginnen."
Sollten wir doch. Ich konnte mich wahrscheinlich sowieso nicht dagegen wehren."Ich werde mich nun entfernen, um festzustellen, wo bei dir die erste Kreislinie ist, also ab wo du mich in dir hörst."
Das klang aber eher nach Tests als nach Übungen.
Mr Gurs war schon dabei sich immer weiter nach hinten zu entfernen. Deswegen hat er also das "Training" in diesem riesigen Raum angesetzt, der allerdings mit all seinem Staub und dem abblätternden Gold deutlich weniger genutzt aussah, als die Säle in denen ich vorher schon war.
Er redete und redete, entfernte sich dabei aber nur im Schneckentempo. Als wollte er die Grenze auf Zentimeter genau festlegen.
"Meine liebe Lucy"
Wurde er jetzt sentimental oder wusste er nur nicht was er sagen sollte?
"Wir sind also hier um zu trainieren, wie Lord Cliffleroy es mir aufgetragen hat. Der Tälerbund freut sich über deinen Neuzugang. Doch wir müssen dich mit dem Leben hier vertraut machen. Lucy, alles in Ordung, hörst du mich noch ganz normal?"
Mr Gurs hatte sich gerade einmal zwanzig Meter von mir entfernt. Glaubte er etwa da würde ich schon nichts mehr hören? Also so schlecht war mein Gehör nun doch noch nicht. Selbst wenn er bei dieser Entfernung vielleicht nichts mehr hörte. Und wer bitte war Lord Cliffleroy? War das vielleicht Goldkauz?
"Ich höre Sie gut. Ich denke Sie werden sich noch ein ganzes Stück entfernen müssen", antwortete ich etwas barscher als beabsichtigt.
"Nun gut, ich gehe dann weiter."
Mit unwesentlich schnelleren Schritten lief Mr Gurs weiter und beobachtete mich aus zusammengekniffenen Augen, um das erste Anzeichen meiner Schmerzen ja nicht zu verpassen. Dabei fuhr er fort irgendwelches unzusammenhängendes Zeug über mich zu erzählen.Nun hatte er bestimmt schon über dreißig Meter zurückgelegt und noch immer hörte ich ihn gut. War meine Schätzung im Speisesaal so falsch gewesen?
Vierzig Meter.
Fünfundvierzig Meter.
Oder konnten Hintergrundgeräusche das Ganze beeinflussen? Im Speisesaal war der Lärm groß gewesen und hier war es totenstill. Bis auf Mr Gurs' Geplapper natürlich. Seine Sätze wurden auch immer unsinniger. Ihm fiel sichtlich nicht mehr ein.
Seine Stimme wurde leiser und leiser. Ich musste mich schon sehr konzentrieren, um noch zu verstehen was er sagte.Dann fing es auf einmal an. Eine Sekunde lang hörte ich Mr Gurs gleichzeitig mit meinen Ohren und in mir drin. Doch die Worte in mir kamen einen Moment später an und waren wie ein Echo auf das eben Gehörte. Ich zuckte zusammen. Mr Gurs hörte sofort zu sprechen auf. Er nahm seinen weißen Stein und markierte die Stelle am Boden, an der er gestanden hatte.
Es waren gut und gerne fünfzig Meter.Dann lief er mit undefinierbarer Miene zu mir zurück. Wo war das Lächeln, für das ich ihn direkt ins Herz geschlossen hatte?
"Das waren fünfzig Meter! Dein Gehör ist phenomenal."
Er sagte es mit einer Miene, die mir verriet, dass er das Ganze überhaupt nicht phenomenal fand.
"Natürlich wäre es praktischer, wenn du nach geringerem Abstand schon dein Inneres Gehör benutzen würdest. Es wäre nützlicher wegen der 'Volksstimme', die wir"
Er brach schlagartig ab. Seine Augen wurden groß und er schaute mich für eine Millisekunde erschrocken an. Dann schloss er sie wieder, atmete einmal tief durch und sprach dann schnell weiter, ohne den vorherigen Satz zu beenden.
"Gut, kommen wir also zum nächsten Punkt."Was wollte er mir gerade sagen, bzw. eben doch nicht sagen? Die 'Volksstimme'. Das musste etwas Interessantes sein. Ich sollte es mir auf jeden Fall merken. Innerlich sagte ich mir das Wort ein paar mal hintereinander auf, damit ich mich auch später noch daran erinnern konnte.
Irgendetwas lief hier scheinbar gar nicht so wie es sollte."Stell dich mir gegenüber. Als erstes möchte ich testen, wie stark du schon bist."
Ich gehorchte widerstandslos.
Vielleicht würde er mir durch Zufall ja noch ein paar interessante Dinge mitteilen.
Er legte mir seine Hand auf den Kopf. Ich spürte, wie sich die Wärme seiner Handfläche auf meine Kopfhaut übertrug und ein angenehmes Kribbeln verursachte.
Er sagte noch ein paar beruhigende Worte, doch ich konzentrierte mich ganz auf dieses neue Gefühl, das so anders war als der Schmerz.
Eine ganze Weile blieben wir so stehen. Langsam spürte ich, wie etwas in mir drin war, etwas das mehr war als ein Kribbeln, etwas genauso warmes, wie die Hand auf meinem Kopf.Erst war es angenehm, doch dann merkte ich, wie dieses Ding langsam etwas aus mir heraus nahm.
Es war als würde meine Kraft aus mir herausgesogen. Zuerst war es nur die Kraft, die ich sowieso nicht benötigte, die ich nur in mir fühlte, wenn ich die Stimmen wahrnahm, doch dann war es auch die Kraft, die ich brauchte, um mich zu bewegen. Ich fühlte, wie meine Beine immer schwächer wurden, wie sie mich nicht mehr lange halten würden.
Dann sackte ich zusammen.~~~
Lasst mal bitte ein paar Kommis da, wie ihr es bisher findet ^^
Ist das gut geschrieben so? Ich nehme auch sehr gerne Tipps entgegen, was ich besser machen soll, oder was unverständlich ist. Denn konstruktive Kritik ist ja bekanntlich die beste Kritik ;)Beim Schreiben selbst merkt man halt immer so schlecht, ob das für andere gut zu lesen und zu verstehen ist, oder nicht.
Und mit Feedback weiß man auch direkt besser, ob man so weiter machen kann, oder nicht doch besser etwas ändern sollte :-*
DU LIEST GERADE
Rat der Sinne
Fantasy~ Eine Weile saßen wir so da. Ohne Worte. Und diesmal liebte ich die Stille, die sich zwischen uns breitgemacht hatte. Sie bildete keine Mauer mehr, die uns trennte, sondern vielmehr eine Glocke, die uns umgab und im stillen Einvernehmen miteinander...