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Die karge Landschaft erstreckte sich vor mir und schien kein Ende zu nehmen. Der Boden war hart und trocken. Das sah ich auf Anhieb, auch wenn ich ihn nicht fühlen konnte. Schon lange konnte es nicht mehr geregnet haben. Keine einzige Pflanze schmückte den Boden, wie um mir zu sagen, hier ist absolut nichts. Kein Leben möglich. Auch keine Gerüche erreichten meine Nase und keine Gefühle meine Füße. Nicht mal der Geschmack von Staub legte sich auf meine Zunge. Ich fühlte mich wie in einem luftleeren Raum, aus dem alles Lebensnotwenige herausgesogen war. Die Luft flimmerte und doch fühlte ich keine Hitze auf meiner Haut.

Nur sehen konnte ich. Diese Landschaft. Dieses Nichts. Ich versuchte meine Augen zu bewegen. Aber meine Augenlieder waren wie verklebt. Sie waren geschlossen. Meine Augen waren geschlossen! Wie konnte ich dann sehen? Diese Frage verflog aber genauso schnell wie sie gekommen war, als ich feststellte, dass meine Ohren das einzige war, das noch funktionierte. Die Landschaft musste einzig und allein aus meinem Kopf kommen. Panik ergriff mich und ich begann laut zu schreien, aber aus meinem Mund kam kein einziger Ton. Wie eine stumme Marionette war ich in meiner eigenen Landschaft gefangen. Meine eigenen Arme und Beine fühlte ich nicht, meine Nase roch nicht, meine Hände sah ich nicht und meine Zunge schmeckte nicht. Nicht nur eine Gefangene in der eigenen Landschaft, sondern auch eine Gefangene im eigenen Körper.

Ich wollte hier raus, ich musste hier raus. Wilde Gedanken bahnten sich ihren Weg in meinen Kopf und ließen Flüsse fließen und grüne Bäume sprießen, bis sie vor meinen Augen direkt wieder wie Kartenhäuser zusammenstürzten.
Aber noch viel Schlimmer waren die Geräusche, die immer lauter wurden, je mehr ich versuchte sie zu ignorieren. Es war ein Geschrei, ein Tumult, eine unglaubliche Kulisse. Ich verstand nur Einzelnes und trotzdem half es mir nicht weiter.

"Wir gehören zusammen."

"Was läuft hier schief?"

"Jetzt hör damit auf."

Die Stimmen kamen aus verschiedenen Richtungen und formten sich in der Luft zu einem großen Ganzen zusammen, dass schließlich meinen Kopf umhüllte und mir die Sätze gleichzeitig ins rechte und ins linke Ohr flüsterte.

"Wir sind eine Nation."

"Das kann nicht sein, unmöglich!"

Die Stimmen schwollen an und ab, wurden lauter und leiser, veränderten ihre Tonhöhe, sackten nach oben und nach unten. Mal ein Flüstern, mal ein Schrei.

"Vergiss nicht, sie musst alles lernen. Alles!"

"Auch das hier."

"Hüte dich zu viel zu denken."

Am liebsten hätte ich mich zusammengekauert und mir die Ohren zugehalten, aber ich wusste, dass mich die Stimmen der tausenden von Mündern trotzdem erreichen würden.

"Ich hole dich wieder."

Noch immer war ich nur Zuschauer in meiner eigenen Fantasie.

"Auf rechtem Wege."

"Der Zunkunft entgegen."

"Der glorreichen Zukunft!"

"Lucy"

Halt, da war mein Name. Am liebsten hätte ich geschrien so erleichtert war ich, dass jemand anscheinend merkte, dass hier ganz gewaltig etwas nicht stimmte.
Aber auch da hatte ich keine Chance.

"Luucy!"

Eine Ohrfeige klatschte auf meine Wange und es tat so weh, dass ich fast vergaß mich darüber zu freuen, dass ich etwas gefühlt hatte. Erst die zweite Ohrfeige mitten aus dem Nichts, brachte mich dazu ein weiteres Mal zu versuchen die Augen zu öffnen. Sand und Staub verklebte mir noch immer die Augen, aber langsam rieselte er herunter. Es fühlte sich an wie ein Tempel, dessen Steine langsam von oben herunterfallen. Immer mehr konnte ich meine Augen öffnen. Auch wenn noch immer eine dicke Schicht auf ihnen lag, sie verschwand immer weiter.

Rat der SinneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt