Ein weiteres Mal stand ich vor Mr Gurs. Ich hoffte, dass man mir mein Unbehagen nicht zu sehr ansah. Noch immer waren meine Gedanken bei seinem Test, den er beim letzten Training durchgeführt hatte. Jetzt wusste ich, dass ich stark war. Aber dafür hatte ich etwas von dem Vertrauen verloren, dass ich eigenlich sofort in Mr Gurs gehabt hatte.
Trotzdem war ich jetzt wieder hier, von Lenius hergebracht.
"Lucy", Mr Gurs klang aufrichtig erfreut, "schön dich wieder zu sehen. Heute werden wir mit dem richtigen Training beginnen. Keine Tests mehr. Versprochen." Dabei schenkte er mir ein liebenswürdiges Lächeln. Ihm lag wirklich etwas an mir. Das merkte man sofort."Ich bin bereit", sagte ich und meinte es auch so. Ich wollte trainieren, ich wollte alles wieder in den Griff bekommen.
"Dann lass uns beginnen. Als erstes wollen wir erreichen, dass du die Stimmen bewusst ausblenden kannst, um dir unnötige Schmerzen zu ersparen."
Das klang doch gut.
"Ich gehe jetzt wieder zur markierten Stelle", Mr Gurs wies auf die Stelle, die er vor ein paar Tagen mit einem weißen Kreuz markiert hatte. Das war genau der Punkt, an dem ich Mr Gurs' Stimme in meinem Inneren gehört hatte.
"Dann werden wir eine Schocktherapie machen", fuhr er fort. "Das bedeutet, dass ich regelrecht schreien werde. Am Anfang wird es dir unglaublich wehtun. Das ist unvermeidbar. Aber du wirst sehen, mit der Zeit wird es immer weniger werden. Gleichzeitig musst du dich bewusst auf etwas anderes konzenrieren, denn sonst wirst du den Schmerz niemals ausblenden können."
Na gut, dass klang dann schon nicht mehr ganz so gut. Aber ich würde mich meinem Schicksal stellen.Als wir beide auf unseren Plätzen standen, machte ich mich auf das Schlimmste gefasst. Doch das erste, was ich hörte, war Mr Gurs' Stimme, die aber noch in ganz normaler Lautstärke zu mir sprach. Natürlich tat es weh, aber es war auszuhalten.
"Lucy, hörst du mich durch deine Gabe, ist der Abstand noch immer passend gewählt?"
Damit ich mir nicht die Stimmbänder aus dem Hals schreien musste, nickte ich nur mit dem Kopf.
Nicht lange danach und ein Schrei ertönte. Ich hörte ihn auch durch meine normalen Ohren. Aber das war nebensächlich. Viel schlimmer war das Schwert, dass glühend heiß mein Innerstes durchschitt. Ein Schwert aus Tönen. Ein Schwert, geschmiedet aus einem Schrei.
Ich warf meine Arme in die Luft, stampfte auf den Boden und schrie selber aus vollem Hals. Aber nichts half, um das Schwert aus mir zu vertreiben. Ich schaffte es nicht, mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Meine Gedanken waren wie festgeschweißt beim Schmerz, beim Schwert, Es steckte fest in mir und kühlte nur quälend langsam ab.
Schon sah ich, dass Mr Gurs wieder neben mir stand und mich besorgt anschaute. Er schrie nicht mehr, aber trotzdem wollte das Schwert nicht verschwinden. Mir blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Endlich, nach ein paar Minuten, wurde das Schwert zu einem Dolch und schließlich zu einem einfachen Messer. Ich richtete mich wieder auf und sah Mr Gurs an, gespannt auf seine Reaktion.Sein besorgter Gesichtsausdruck zeigte mir aber einmal mehr, dass er eine so heftige Reaktion nicht erwartet hätte. "Geht es dir gut?" Er legte mir väterlich eine Hand auf die Schulter und drückte mich einmal. Ich spürte, wie mich seine langen weißen Haaren an der Wange kitzelten.
"Ja, es geht schon. Es tat unglaublich weh, aber wenn es sein muss, nehme ich es noch einmal auf mich."
"Eigentlich sollte es auch nicht noch einmal so stark sein. Wenn alles glatt läuft, werden die Schmerzen jetzt jedes Mal weniger werden."
Wollen wir dem mal Glauben schenken. Eigentlich könnte ich eine Pause gut gebrauchen, aber ich wollte, dass das Training voranschritt und ich wollte etwas erreichen.
"Mr Gurs, ich wäre so weit einen weiteren Schritt zu gehen."
"Du bist tapfer", bemerkte Mr Gurs und entfernte sich gleich wieder. Er war sichtlich erfreut darüber, dass es mir wieder gutzugehen schien und wir fortfahren konnten.Nur wenige Sekunden später kam das Schwert schon wieder und entgegen meinen Hoffnungen, war es genauso scharf und genauso heiß wie beim ersten Mal. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, außer es ein weiteres Mal auszuhalten und standhaft zu bleiben. Aber immerhin kühlte das Schwert etwas schneller ab und auch Mr Gurs blieb diesmal auf seinem Platz stehen.
Sogleich stieß er einen weiteren Schrei aus, der sogleich in mich eindrang. Er nahm das mit der Schocktherapie für meinen Geschmack etwas zu wörtlich.Je länger wir diese Schocktherapie durchführten, desto mehr spürte ich tatsächlich erste Veränderungen. Der Schmerz klang schneller ab und ich hatte sogar solch schmerzfreie Momente, dass ich mich fragen konnte, ob man nicht diese ohrenbetäubenden Schreie in der ganzen Burg hören würde. Überhaupt musste es peinlich sein, so herumzuschreien. Aber ich würde mich nicht beschweren. Immerhin galt das Trainig mir und er machte das nur für mich.
Nach einer geschlagenen halben Stunde erklärte Mr Gurs die Übung für beendet und lobte mich überschwänglich. Ich spürte, dass er stolz auf mich war. Und um ehrlich zu sein, ich war es auch. Obwohl ich so meine Zweifel an ihm hatte, nachdem ich bei einem seiner Tests das Bewusstsein verloren hatte, so stellte er sich mir jetzt doch wieder als netter älterer Herr dar. Er war wirklich eine der wenigen Personen hier, der ich mein Vertrauen sofort geschenkt hatte. Und würde er mich nochmal darum bitten, einen Test machen zu dürfen, ich würde es ihm wieder gestatten. Ich war mir nun absolut sicher, dass er mir nichts Böses wollte.
"Sollen wir nun eine Pause machen Lucy?" Ich glaube Mr Gurs sah die Erschöpfung in meinem Gesicht. Und tatsächlich fühlte ich mich etwas zittrig. Ein kleiner Nachklang des stechenden Schwertes war immer noch in meinem Bauch. Aber ich war mir sicher, dass auch diese Wunde schnell wieder verheilen würde. Ich wollte jetzt keine Pause machen. Nicht jetzt. Ich wollte lernen, ich wollte mich beherrschen können und über mein eigenes Ich Bescheid wissen. Ich glaube nun hatte mich der Drang gepackt. Ich konnte und wollte nicht mehr loslassen.
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Rat der Sinne
Fantasy~ Eine Weile saßen wir so da. Ohne Worte. Und diesmal liebte ich die Stille, die sich zwischen uns breitgemacht hatte. Sie bildete keine Mauer mehr, die uns trennte, sondern vielmehr eine Glocke, die uns umgab und im stillen Einvernehmen miteinander...