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Das Trainig war ereignislos verlaufen. Mr Gurs hatte weitere Übungen mit mir gemacht, aber meiner Meinung nach, hatten sie keinen nennenswerten Gewinn gebracht. Er hatte es heute tatsächlich geschafft, dass ich die Stimmen schon ein paar Meter früher wahrnahm. Aber im Alltag würde mich das nur weiter stören. Und was brachte es mir, dass wir Übungen gemacht hatten, um zu trainieren, dass ich die Gabe abschalten konnte, wenn ich es kein einziges Mal geschafft hatte?

Ich war frustiert. Wenigstens ein paar kleine Erfolge hätte ich erwartet. Vielleicht, dass ich es schaffe, die Stimmen für eine einzige Sekunde auszublenden. Aber nichts dergleichen war eingetreten.

Ich hatte mich konzentriert, wie ich mich noch nie konzentriert hatte. Aber selbst als ich das Gefühl hatte vor Konzentration jede einzelne Gehirnzelle genau lokalisieren zu können, hatte ich Mr Gurs' Rufe immernoch gehört. Es war zum Verzweifeln.
Doch, gutmütig wie immer, hatte er mir versichert, dass ich nur noch ein paar Übungstunden brauchte, bis ich es schaffen würde. Er sei sich da ganz sicher. Räusper.

Immerhin hatte er mir am Ende erzählt, dass Goldkauz zwei Monate gebraucht hatte, bis er es konnte. Das hatte mich etwas besänftigt, wenn nicht sogar belustigt.

Und das war schließlich auch der Grund, warum ich auch am nächsten Tag mit einem Lächeln zu Goldkauz' Gemächern ging. Er wollte mich im Regierungswesen unterrichten.
Als Lenius mir eben jenes am Abend des gestrigen Tages verkündet hatte, war ich zutiefst skeptisch. Aber immerhin war es doch das, was ich wollte. Mehr über die Burg erfahren.

Deshalb stand ich nun wieder im Gang zu Goldkauz Gemach. Langsam kam mir alles hier sehr bekannt vor. Und auch mit dem Weg hatte ich jetzt keine Probleme mehr. Trotzdem begleitete Lenius mich weiterhin überall hin. Ich war mir nicht sicher, ob es immernoch zu seinen Pflichten gehörte, oder ob er es freiwillig machte. Auf jeden Fall genoss ich es, meine täglichen Wege nicht alleine zurücklegen zu müssen, sondern sowohl zum Essen, als auch zum Training oder eben zu Goldkauz begleitet zu werden. Es war einfach netter, wenn man jemanden hatte, mit dem man zwischendurch sprechen konnte. Ich war schon lange genug am Tag alleine.
Denn immer wieder gab Mr Gurs mir Bücher über meine Gabe, oder über die Geschichte des Bundes, die ich lesen sollte. Aber auf die Dauer war zum Einschlafen langweilig. Natürlich stand in den Büchern viel mehr, als wir jemals in der Schule hätten lernen dürfen, aber es waren nur Bücher, die allgemein für alle zugänglich waren. Und ich war mir quasi sicher, dass es hier auf der Burg noch viele Bücher gab, die nicht jeder lesen durfte. Nur, dass ich zu diesen niemals Zugang haben würde.

Also konnnte ich mich jetzt genauso gut auf die Tatsachen konzentrieren, die letzten paar Schritte zur Tür überwinden, mich von Lenius verabschieden und mich den Regierungsgeschäften widmen. Irgendwie war ich stolz darauf, dass Goldkauz mir schon jetzt alles zeigen würde. Auf wundersame Weise schien er gemerkt zu haben, dass auch Menschen, die nicht von Adeligen abstammten, zu etwas zu gebrauchen waren.

Nach ein paar Schritten ragte die weiß lackierte Tür vor mir auf, die mir bei meinem nächtlichen Ausflug noch viel dunkler erschienen war. Ich klopfte an und sofort ertönte ein tiefes "Herein". Ich sandte einen letzten Blick zu Lenius, dann drückte ich die Türklinke herunter und betrat sein Gemach. Und das rechtmäßig, auf sein Geheiß hin!

Wenn ich es mir so recht überlegte, konnte ich es noch gar nicht fassen, als ich wirklich die roten Samtpolster auf den Sofas und den gläsernen Tisch vor mir stehen sah. Ein goldenes Teeservice füllte den Tisch fast gänzlich aus und ließ ihn kleiner wirken, als er tatsächlich war.
Die Mittagssonne spiegelte sich im Bauch der Teekanne, wurde in alle Richtungen reflektiert und malte schließlich leuchtende Kreise an die Wände.

Ich musste zugeben, der Raum sah wirklich einladend aus. Nicht nur die gemütlichen Sofas ließen meine Knie schon ganz weich werden, sondern auch die Einrichtung mit Bildern in rotgoldenen Rahmen und einem Selbstportait von Goldkauz, auf dem er ausnahmsweise breit lächelnd zu sehen war, war äußerst geschmackvoll. Aber der Gedanke daran, dass der Maler Goldkauz' Lächeln vielleicht nur nach eigenem Ermessen ergänzt hatte und Goldkauz eigentlich wie ein alter Griesgram auf seinem Stuhl posiert hatte, holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück.

Ich sagte also, wie es sich gehörte, meine Höflichkeitsformel auf, die Lenius mir vor ein paar Tagen nahegelegt hatte, um Goldkauz entsprechend seines Standes zu grüßen. Wobei ich sie heute auf ein "Seien Sie gegrüßt Mylord" reduzierte und setzte mich nach einem zufriedenen Wimpernschlag seinerseits auf das zweite Sofa.

"Lucy, ich freue mich, dich heute das erste Mal bezüglich der Ratsangelegenheiten unterrichten zu dürfen."

Die Freude war ganz meinerseits. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass seine Freude wirklich sehr groß war, denn woher sollte dieser plötzliche Sinneswandel kommen? Das war etwas, was ich im Laufe dieses Gespräches noch herausfinden würde. Zumindest wenn alles so verlief, wie ich es mir vorgenommen hatte.

"Ich weiß, dass sie dich sehr interessieren und so sollst du sie auch erfahren."

Beim besten Willen nein, mein großes Interesse konnte nicht der einzige Grund sein, warum ich heute Mittag hier saß. Da konnte er mir nichts vormachen. Trotzdem behielt ich meinen glücklichen Gesichtsausdruck bei und überschlug sogar noch meine Beine, um einen vollkommen entspannten Eindruck zu vermitteln.

"Ich möchte mit ein paar generellen Angelegenheiten starten", fuhr Goldkauz fort, "du könntest mir als erstes erzählen, was du schon alles über die Regierung, beziehungsweise über den Rat weißt."

Das war nicht sein Ernst oder? Ich machte meinen entspannten Eindruck gleich wieder zunichte, als sich meine Hände in die weiche Oberfläche des Sofas gruben. Sollte ich jetzt mein Schulwissen mit dem kombinieren, was ich in der Burg schon erfahren hatte?
Ich hatte das Gefühl, dass, sobald ich meinen Mund aufmachen würde, nur die falschen Worte über meine Lippen kommen würde. Was, wenn ich versehentlich erwähnen würde, wie wir uns unter Freunden nachmittags über die Regierung beschwert hatten, wie wir alles Wissen, was in der Schule so positiv klang, in einen anderen Wortlaut verpackt hatten, sodass man auf einmal die wahre Gestalt des Bundes erblickte? Zumindest war es damals die für uns wahre Gestalt gewesen.

Und wenn mein Redeschwall nur lang genug war, würde ich bestimmt vergessen, dass Goldkauz auch noch da war und all das sagen, was mir einfiel. Ich würde mich sehr beherrschen müssen, um die Schulversion von den Regierungsgeschäften zu erzählen und nicht die, die ich dank meiner Freunde so viel besser kannte.

Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und als ich sie wieder öffnete, erschien mir der Raum auf einmal zu grell, die hellen Kreise zu unruhig und Goldkauz' Portrait zu lauernd. Aber ich würde es hinter mich bringen. Ohne ein falsches Wort zu sagen.

Man musste nur daran glauben, dass man es schaffte, dann schaffte man es auch!

Rat der SinneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt