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War es in meinem eigenen Raum nicht doch am schönsten? In meinem Bett, mit meinen Sachen? Ich kuschelte mich noch ein wenig tiefer in meine Decke. Ja, es war mitten am Tag, aber mir blieb noch eine halbe Stunde nach dem Essen, bis ich zum Training musste. Mr Gurs hatte mir versprochen, dass wir noch einmal daran arbeiteten, dass ich die Stimmen ausblenden konnte. Eigentlich funktionierte es auch schon ganz gut. Immer wieder, wenn sich gerade die Gelegenheit bot, weil sich Diener in einer gewissen Entfernung miteinander unterhielten, versuchte ich, ihre Stimmen nicht an mich heranzulassen. Ich stellte mir vor, wie nichts mein Innerstes erreichen konnte. Mr Gurs hatte mir gesagt ich solle versuchen ganz viel Watte in mich hineinzudenken, die jedes Geräusch verschluckte. Und je mehr ich übte, desto besser wurde ich. Meine Watte wurde dicker und der Schall immer dumpfer. Es tat nicht mehr so weh, dass ich das Gefühl hatte, ein entflammtes Schwert würde in mich eindringen. Vielmehr war das Schwert zu einem einfachen Messer zusammengeschrumpft. Es tat immer noch weh, aber im Vergleich ließ es sich aushalten.

Der eigentliche Hintergrund, warum ich so viel übte, war sowieso, dass Goldkauz mir versprochen hatte, dass ich ein Zimmer in einem der bwohnten Trakte bekommen könnte, wenn ich nur die Stimmen nicht mehr hörte.

Aber je mehr ich daran dachte, dass ich dieses Zimmer bald verlassen musste, desto mehr fiel mir auf, wie lieb ich es mit der Zeit gewonnen hatte. Ich schlang die Decke noch ein wenig enger um meinen Körper und drückte einen Zipfel an meine Brust. Der Kleiderschrank mit seiner unerschöpflichen Auswahl an Kleidern, mein Badezimmer mit der großen Badewanne, aber vor allem der Ausblick aus meinem Fenster. Müde schwang ich ein Bein aus dem Bett, nahm meine Decke mit und setze mich im Schneidersitz vor mein Fenster.

Unter dem nackten Stein, auf dem die Burg Errata unverwüstlich thronte, standen noch immer die grünen Hecken, die gleichzeitig anmutig im Wind hin und her schwankten und mir doch ein Kribbeln im Bauch bescherten. Dort hatte ich gelegen und wenn Lenius mich nicht gefunden hätte, dann wollte ich mir immer noch nicht ausmalen, was geschehen wäre.

Unter den Hecken erstreckte sich ein langer bewaldeter Streifen,dessen Blätter in den buntesten Farben leuchteten. Es war Herbst geworden. Ich stützte meinen Kopf in die Hände. Es war nun schon so lange her, dass ich zu Hause gewesen war. Meinen Blick suchte sich von alleine seinen Weg in die Ferne, ungefähr an die Stelle, wo ich die Wiese mit unserem Haus vermutete. Es war so lange her, dass ich Liv gesehen hatte. Und zu meinem Leidwesen musste ich festellen, dass ich auch schon eine Weile nicht mehr an sie gedacht hatte. Das Trainig, die Volksstimme und die Ratssitzungen hatten mich viel zu sehr beschäftigt.

Ob sie wohl noch an mich dachten? Ob sie vielleicht hofften, dass ich zu ihnen zurückkehren würde? Oder hatten sie mich schon vergessen und sich damit arrangiert, dass ihr Leben von nun an ohne mich weitergehen würde. Ich stellte mir vor, wie Liv übermütig über die Wiese tollte, wie sie  sich zwischendurch Ziegenmilch holte, auf den Hügel stieg und vielleicht, genau wie ich, in die Ferne blickte. Vielleicht schaute sie sogar in diesem Moment zur Burg und fragte sich, hinter welchem Fenster ich war. Vielleicht vielleicht. Es war eine beruhigende Vorstellung und mir wurde klar, dass ich meine Familie nicht vergessen hatte, sondern dass ich sie all die Zeit nur verdrängt hatte, um dieses Gefühl in meiner Brust nicht spüren zu müssen. Da war ein Ziehen und eine innere Niedergeschlagenheit, die mich sofort den Wunsch verspüren ließ nach Hause zurückzukehren. Ich wollte meine Mutter in meinen Armen fühlen und Liv durch die Luft wirbeln. Ich wollte die frische Luft atmen und die Wiese unter meiner Haut spüren. Ich wollte die Vögel durch die Luft fliegen sehen und die Grillen zirpen hören. Keine Verpflichtungen mehr, einfach nur frei sein. Frei sein von Sorgen, frei sein von allem Wissen, frei sein von allem, was mich bedrückt. Einfach nur die Freiheit fühlen, mich im Kreis drehen, die Arme ausstrecken und mich von der Sonne bescheinen lassen.

Doch stattdessen drang langsam Kälte durch meine Decke hindurch. Es war schon lange nicht mehr so warm, wie es noch vor einigen Wochen gewesen war. Trotzdem schien die Sonne durch mein Fenster, doch sie erreichte mich nicht. Stattdessen gab sie mir das Gefühl allein zu sein mit meiner Kälte.

Ich dachte an Dalantus, meinen Onkel. Das Wort hörte sich immer noch merkwürdig an in meinen Ohren. Aber trotzdem war er ein Teil der Familie. Irgendwie.
Eigentlich sogar der, der mir im Moment am Nächsten war, räumlich gesehen. Aber trotzdem wollte dieser Gedanke die Kälte einfach nicht vertreiben.

Mühsam stand ich auf, legte mir meine Decke um die Schulter und fing an mich zu drehen. Ich schloss die Augen und in meiner Vorstellung flogen die Bäume, unser Tal und unser Haus immer schneller um mich herum. Ich versuchte das Prickeln der Sonne auf meiner Haut zu spüren, aber alle Einbildung blieb erfolglos. Statt Wärme fühlte ich höchstens einen kalten Luftzug auf meiner Haut, der durch die Mauerritzen kroch wie ein Geist aus der Flasche.

Meine Einbildungskraft reichte nicht aus, um ein Glücksgefühl in mir aufsteigen zu lassen. Dabei ging es mir eigentich nur darum, diese Sehnsucht loszuwerden. Aber je mehr ich an Liv und zu Hause dachte, desto stärker wurde die Sehnsucht und desto größer wurde die Ungewissheit, wie es ihnen eigentlich ging. Hatte ich im Rat immer die richtigen Entscheidungen getroffen? Hatte ich nichts veranlasst, was ihnen schaden könnte?

Mit einem leicht beklemmendn Gefühl dachte ich an die Sitzung zurück, in der es um die Lebensmittelverteilung gegangen war. Alle Mitglieder waren für höhere Abgaben gewesen. Die Adeligen sollten noch mehr bekommen und die Bauern noch mehr geben. Ich konnte nicht dagegenstimmen. Ich wäre die einzige gewesen und hätte es mir automatisch mit allen anderen verscherzt. Es tat mir immer noch in der Seele weh, dass ich meine eigene Familie dazu verdonnert hatte, noch mehr abzugeben, obwohl sie sowieso weniger hatten, als sie brauchten.

Aber jetzt war ich ja nicht mehr da.

Es versetzte mir einen Stich. Aber vielleicht hatte meine Familie dank mir jetzt genug zu essen.

Ich wollte von diesen Gedanken wegkommen. Ich musste von ihnen wegkommen. Zur Ablenkung warf ich einen Blick in meinen Kleiderschrank und überlegte schon einmal, was ich beim Ball anziehen würde, der in der nächsten Woche stattfinden sollte. Vorfreude verspürte ich keine. Aber nichts würde an ihm vorbeiführen.





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