34. Monster

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Meine Verletzung war gut verheilt. Heute durfte ich zum ersten Mal wieder trainieren. Lucie hatte dem Boss alles erklärt, der danach ziemlich verwirrt gewesen war. Ich wusste gar nicht, dass ich mich jemals freuen würde, zur Schule gehen zu dürfen. Eigentlich war das eine Bestrafung! Aber nach zwei Wochen ruhig im Bett liegen, ging ich sehr gerne wieder zur Schule. Das ich das Mal sage. Das grenzt glatt an einem Wunder! Geschwind schlüpfte ich in meine Sportsachen. Maik und Lucie hatten mich echt häufig besucht. Eigentlich jeden Nachmittag. Mittlerweile verstanden Lucie und ich uns echt gut. Ich bin so froh, dass wir uns wieder vertragen haben! Ich hab ihre Art total vermisst. Lächelnd zog ich mir Turnschuhe an und lief dann zu Lucies Zimmer. Vorsichtig klopfte ich an. Es war irgendwie ungewohnt wieder vor ihrer Tür zu stehen. "Zu spät!", rief Lucie von innen und kam im nächsten Moment hinaus. "Du bist genau zwei Sekunden zu spät!" Sie grinste mich frech an, sodass ich sie leicht gegen den Unterarm boxte. "Pfff", machte ich und lief los. Das ganze artete schließlich in einem Wettrennen aus. Ich hechtete die Treppen hinunter und griff triumphierend nach der Tür zum ersten Trainingsraum. Gespielt beleidigt zog Lucie eine Schnute und ließ ihre Schultern hängen. "Warum bist du schneller als Maik? Gegen ihn habe ich gewonnen", murrte sie, was mich noch breiter grinsen ließ. "Wäre doch langweilig, wenn wir alle gleich wären", meinte ich und öffnete die Tür. Mein erster Blick fiel auf Herr Kot, der mit Ryan trainierte. Überrascht zog ich eine Augenbraue hoch. Ryan hatte ich seit langem schon nicht mehr gesehen. Er hatte mich nicht ein einziges Mal besucht. Um ehrlich zu sein, war ich etwas enttäuscht darüber. "Was machen wir als erstes?", wollte Lucie neugierig mit neuer Energie wissen. "Ich will sehen, was du alles gelernt hast. Wir kämpfen etwas", erklarte ich grinsend. Woher kam bloß die ganze gute Laune? Sonst war ich doch auch nie so! Lucie nickte. Sie ging zu einem Regal und warf mir Savtys zu. Ich fing sie auf und zog mir sowohl die Boxhandschuhe als auch die Fußschoner an. "Na los", meinte ich und lief zu einer Matteninsel. Lucie kam zu mir und wir stellten uns beide in Kampfstellung hin. "Zeig mir, was du kannst!", rief ich und eröffnete somit den Kampf. Lucie musterte mich genaustens und schnellte dann nach vorne. Ich wehrte den Schlag ab, sah aber dadurch das Knie zu spät, das sie in meine Seite rammte. Oha. 'Pass auf sonst macht die dich fertig, du Schwächling!', lachte Marvin mich aus. Träum weiter. Lucie holte erneut zum Schlag aus. Ich duckte mich unter ihrem Schlag weg und griff meinerseits an, in dem ich ihr eine Faust in die Rippe stieß. Danach brachte ich etwas Abstand zwischen uns. Schon griff Lucie wieder an. Ich parierte und startete einen Gegenangriff. So ging das immer weiter, bis Lucie erschöpft aufgab. An meine Ausdauer kommt halt keiner ran. 'Überhaupt nicht eingebildet, du Intelligenzbremse.'  "Ziemlich gut, dafür, dass du lange kein Kampftraining gemacht hast", meinte eine bestimmte Stimme. Ryan stand vor unserer Matte. "Was willst du?", fragte ich kalt. Ich war gekränkt. Die ganze Zeit war ich ihm egal gewesen. Nicht einmal hatte er es für nötig gesehen, zu fragen, wie es mir geht. Und jetzt schien es ihn auch nicht zu interessieren. Es sah so aus, als würde ihn allein die Leistung eines Menschen interessieren. Hatte er mich nicht besucht, weil ich für ihn wertlos war, da ich ja am Bett gefesselt war. War ich ihm so unwichtig? Ein schmerzhaftes zugleich dumpfes Gefühl machte sich in meinem Oberkörper langsam breit. "Nichts. Hatte nur gerade nichts mehr zu tun und hab euch trainieren sehen. Achja. Deine Verteidigung ist teils ziemlich grottig", sagte Ryan. Leichter Schmerz durchzuckte mich. Ich war ihm wirklich vollkommen egal. So wie ich allen eigentlich egal war. Wer wollte sich auch schon freiwillig mit jemanden wie mir abgeben? "Als ob dich das juckt!" Ein bitteres Lachen verließ meinen Mund. Gut, dass ich schauspielern konnte. So sah wenigstens keiner meinen Schmerz. Lucie musterte mich argwöhnisch. "Alles gut?", fragte sie leise. Ich nickte. "Ich geh joggen. Bis dann", murmelte ich und machte mich aus dem Staub. Ich spürte Lucies stechenden Blick in meinem Rücken. Ich zog meine Saftys aus. "Warum hast du James nicht besucht? Ihr seid doch Brüder", hörte ich Lucie Ryan fragen. "Na und? Ist mir doch egal? Der ist doch nur nen aufmerksamkeitsgeiler Typ. Ich an deiner Stelle würde mich lieber von ihm fernhalten. Der hat nen ziemliches Aggressionsproblem und ist vollkommen unzuverlässig. Manchmal glaube ich, dass er ein unterentwickeltes Gehirn besitzt. Außerdem sollte man dem niemals glauben oder gar vertrauen. Der ist ein verdammt guter Schauspieler", erklärte mein Zwillingsbruder. Ein stechender Schmerz fuhr durch meine Brust. Mein Herz zog sich zusammen und schmerzte wie sau. Tränen traten in meine Augen, doch ich drängte sie zurück. Mein gesamter Körper verkrampfte sich. Es fühlte sich so an, als würden sich tausende von Nadeln in mein Herz bohren. "Wahrscheinlich tut er so, als ob du etwas besonderes wärst, wartet, bis du dich in ihn verliebst, und bricht dir dann dein Herz. Mein Bruder ist ein herzloser Typ, den ich nicht länger meinen Bruder nennen will", fügte Ryan dazu. Das war zu viel. "So denkst du also über mich." Meine Stimme klang eiskalt. Der Schmerz zerstörte mich von innen. Wieso? Was hatte ich denn bloß getan? Wieso tat er mir das an? Sah er mich wirklich so? "Ach du bist noch da. Ich dachte du wärst schon weg", sagte Ryan gespielt überrascht. Sein kalter Blick durchbohrte mich. "Ach ja. Ich schütze nur die Menschheit vor dir, Monster!", ergänzte er nach einer kurzen Stille. Ich zuckte zusammen. Meine Augen weiteten sich. "Ich kenne die Wahrheit! Du hast sie umgebracht. Du hast sie alle umgebracht! Die anderen kannst du vielleicht täuschen, aber mich wirst du niemals täuschen können!" Er lachte bitter. Ich sah ihn einfach nur an. Was war hier los? Was war das für ein kurioses Spiel? Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Was hatte ich ihm getan? Was war passiert? Und warum... warum nannte er mich MONSTER? "Ich war das nicht", keuchte ich immernoch erschrocken. Was ging hier vor sich? "Lüg nicht", knurrte Ryan, "Alles weißt darauf hin. Erst Ann. Dann unseren großen Bruder und dann auch noch Mum und Dad. Du bist echt grausam. Monster. Du bist einfach ein abscheuliches Monster!" "Wer sagt das?" Meine Stimme war rau und krächzend. Wer erzählte so etwas? Ich hatte doch nichts getan. Ich war unschuldig! Wieso glaubte er so etwas? "Deine Pflegeeltern!", zischte Ryan, "Und jetzt geh mir aus dem Weg." Ich drehte mich um und rannte weg. Meine Beine wollten nachgeben und zusammenbrechen. Meine Lunge begann zu brennen. Meine Sicht wechselte zwischen klar und unklar. Schweiß lief mir über meine Stirn, verklebte meine Haare und brannte in meinen Augen. Das war eindeutig die Rache für Leons Tod. Leb wohl Ryan. Lebt alle wohl. Das war's...
Ich... ich kann nicht... mehr...

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