Das Kapitel mit dem Ausnüchterungslager

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Den Samstagmorgen verbrachte Mira unter der treuen Aufsicht von Anastasia, der trotz des klaren Kopfes ganz mies zumute war. Wenn ihre kleine Schwester hier durch war, musste sie dringend mit Henry sprechen. Dass der äh Vorfall von letzter Nacht ein für alle mal aufgeklärt wurde. Oder wie auch immer sie das nennen sollte. Aber im Moment und auch für die nächsten Minuten sah es so aus, als würde sie noch eine Weile im Bad bleiben müssen, um Mira beim Kotzen die Haare aus dem Gesicht zu halten (Und das um 8:30!). Gerade, als diese sich zurücklehnen wollte, wurde sie wieder ganz grün im Gesicht. "Oh oh", krächzte sie, ehe sie sich erneut die Seele aus dem Leib kotzte. Seufzend knotete Anastasia Miras Haare im Nacken zu einem Zopf zusammen und füllte dann ein Glas mit Wasser. Schließlich öffnete sie das Fenster. Mira drückte missmutig die Spülung, blieb aber über der Kloschüssel hängen, nur für den Fall. "Alkohol, du böser Geist", murmelte Anastasia gedankenverloren, während sie in den grauen Morgen hinausstarrte. "...Hast schon meinen Opa umgeschmeißt." Sie fuhr mit dem Finger über den rauen roten Klinkerstein. "Jetzt versuchst's mit mich. Weg mit dich!" An dieser Stelle drehte sie sich blitzartig zu Mira um, die sie verfremdet ansah. "Was. War. Das?" Sie nahm das Glas Wasser, legte den Kopf in den Nacken und kippte es in sich hinein. Ein vereinzelter Tropfen rollte ihr bleiches Kinn entlang. "Ein Trinkspruch", meinte Anastasia schulterzuckend, und ehe sie noch mehr sagen konnte, musste Mira sich wieder übergeben. Hilflos klopfte Ana ihr auf den Rücken. "Du solltest wirklich weniger trinken." "Warum?" Anastasia rollte mit den Augen. "Erstens ist das nicht gut in deinem Alter. Von Alkohol sterben Gehirnzellen ab und damit würde ich besonders in deinem Fall sparsam umgehen. Sonst landest du beim Putz-Trupp. Und zweitens ist es doch extrem peinlich, auf der Tanzläche zu strippen und dabei 'Twerk it like Miley!' zu schreien, oder?" Anastasia seufzte tief, während Mira erneut die Spülung drückte. In ihrer Magengegend rumorte es, aber als sie das nächste Mal würgte, kam nichts dabei raus. Ihr Körper war leer. Gruselige Vorstellung. "Und du hast es geschafft, dich zu blamieren, ohne dass du voll warst", brummte sie Anastasia zu, die entrüstet nach Luft schnappte. "Wobei hab ich mich denn blamiert?" Mira starrte sie finster an. "Du hast Henry  geküsst! Henry!  Der ist erstens voll unter deinem geistigen Niveau und zweitens gehört er zur Familie." Passend an dieser Stelle würgte sie erneut. Was wollte ihr Magen denn noch? Das Essen war raus, also was wollte er nun loswerden? Seine Magensäure? Sich selbst? Anastasia unterbrach Miras Brainstorming. "Du hast doch einen an der Waffel. Ich meine klar, ich habe ihn geküsst, aber es hat keiner gesehen. Es zählt also praktisch gar nicht. Nur ein Kuss. Keine Gefühle." In Wirklichkeit wollte sie nicht Miras Gewissen beruhigen, sondern ihr eigenes. Wenn ihr jemand einen Weg anbieten würde, diesen Kuss ungeschehen zu machen, sie würde es tun, was es ihr auch abverlangte. Den eigenen Stiefbruder zu küssen war ein absolutes No-Go. Obwohl... sie waren ja keine richtigen  Geschwister und es hatte sich auch nicht so angefühlt, als würde sie mit ihrem Stiefbruder knutschen, sondern mit einem hübschen Kerl auf einer Party. Anastasia schüttelte den Kopf, als wolle sie ihre Gedanken beiseite schieben. Mira sah sie mit zusammen gekniffenen Augen an. Sie machte gerade den Mund auf, um etwas zu sagen, da klopfte es an der Badezimmertür. Die Klinke wurde kräftig gedrückt und geschüttelt. "Wer ist da?", rief Anastasia. "Linda", sagte eine Stimme, die leicht pikiert klang. Mira und Ana sahen sich kurz an, um dann beide die Augen zu verdrehen. "Bitte nehmen Sie die Toiletten im Nachbarhaus, da diese gerade als Ausnüchterungszelt dient!", zwitscherte Mira, als würde sie eine Durchsage machen. Anastasia kicherte leise in sich hinein, ehe sie das Fenster wieder schloss. Es war doch ziemlich kühl... "Ich muss kotzen, ich schwöre!", kreischte Linda von der Tür aus. "Und wenn ihr mich nicht reinlasst, erledige ich das auf dem teuren Perser-Teppich, der hier liegt!" Sie schlug mit der flachen Hand vor die Tür. "Das klingt wirklich ernst", sagte Anastasia und öffnete mit falschem, kaltem Lächeln die Tür. Bis zum Klo kam Linda leider nicht, aber sie schaffte es wenigstens bis zum Waschbecken. Auch Miras Magen hatte beim Anblick der kotzenden Tussi irgendwas gefunden, das er ausspucken konnte, weswegen sie ebenfalls wieder mit dem Kopf über der Schüssel hing. Wenn die beiden sich hatten, war wenigstens Anastasia aus dem Schneider. Leise schlich sie sich davon, um mit Henry zu reden.

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