Das Kapitel, in dem Ana nicht weiter weiß

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Susi folgte Anastasia in den ersten Stock, wo sie sich dann die Badezimmertür vor der Nase zuknallen ließ. "Pass doch auf!", fuhr sie auf, ehe sie den altmodischen Knauf drehte und in den Raum stürmte. Anastasia rastete völlig aus. Wild und hemmungslos schluchzend knallte sie den offen gelassenen Spiegelschrank zu, vor den sie fast gerannt wäre und kickte dann mit voller Wucht vor den instabilen Wäschekorb aus Stoff, dessen prall gefüllter Inhalt sich daraufhin über den Fliesen ergoss. Susi stand mit ihrer mit Marmelade bestrichenen Brötchenhälfte im Türrahmen und starrte das Mädchen befremdet an. "Was ist denn mit dir durchgegangen?" "Das fragst du noch?" Anastasia heulte wie ein Schlosshund. Aber anders als eben schienen sie jetzt alle Kräfte zu verlassen, denn sie sank vom heftigen Weinen geschüttelt an der Wand hinunter. "Hast du nicht gehört, wie Stephen mich da gerade gedemütigt hat?" Susi fiel auf, dass Ana zum ersten Mal den Vornamen ihres Vaters an Stelle von Papa sagte. Sie schluckte, dann schloss sie die Tür und hockte sich zu Anastasia in den Wäschehaufen. "Das werde ich ihm nie verzeihen!" Ana rieb sich den Rotz quer durch's Gesicht. "Ich weiß." Susi versuchte sanft zu klingen. "Ich weiß, dein Vater hat manchmal das Feingefühl eines Baggers, aber das musst du ihm nachsehen." "Er ist furchtbar", entgegnete Anastasia, während sie aggressiv drei Kosmetiktücher auf einmal aus der Dose riss. Susi biss in ihre Brötchenhälfte. "War da denn was Wahres dran?", wollte sie dann schmatzend wissen, woraufhin Ana sie anstarrte, als könne sie nicht mal bis drei zählen. "Ist das dein Ernst? Ich durchleide die Krise meines Lebens und dir fällt nichts besseres ein, als fröhlich in dein Marmeladenbrot zu beißen und doofe Fragen zu stellen?" Für kurze Zeit hatte sie zu weinen aufgehört, doch als Susi unbeteiligt mit den Achseln zuckte, fing sie wieder an. Ihre Schultern hoben und senkten sich heftig. "Ach, die Phase geht vorüber", sagte Susi aufmunternd. "Das ist keine Phase. Ich habe ernsthafte Probleme und die Kacke ist bei mir gerade echt am Dampfen und ich brauche... Hilfe." Die letzten  Worte hatte Anastasia nur noch geflüstert, während sie mit leeren Augen auf das vollgerotzte Taschentuch in ihren roten Händen starrte. Susi hob neugierig die Augenbrauen und rückte näher an ihre Stieftochter ran. "Oh, was ist es denn? Hast du bei Tim anzügliche Videos von ihm und Linda gefunden, so wie es sich für eine richtige Nutte gehört?" Sie lachte über ihren eigenen Witz. "Das ist kein Scherz!", fauchte Anastasia, woraufhin Susi augenblicklich verstummte. "Also stimmt es wirklich, dass Linda da...?" Als Ana nickte, war sie wie vom Donner gerührt. "Das glaub ich ja jetzt nicht!" Susi lachte hysterisch auf und ließ glatt ihre Brötchenhälfte in den Wäschehaufen fallen - mit der Marmeladenseite nach unten. Hinter dem halb geöffneten Fenster gluckerte die Regenrinne viel zu fröhlich vor sich hin. "Und es kommt noch dicker", sagte Anastasia grimmig, während sie das Kosmetiktuch in ihren Händen zweiteilte. "Tim wusste es von Anfang an. Er hat sie bezahlt und ausgenutzt bis zum Ende. Ich komm mir so verarscht vor. Obwohl - das bin ich ja auch." Sie zuckte die Schultern und vergrub das Gesicht in den Händen. "Das schlimme ist, dass Linda absolute Schweigepflicht hat! Wenn ich ihm erzähle, dass ich alles weiß, verlangt er von ihr vermutlich sein Geld zurück oder tut sonst irgenwas. Ich will sie da nicht mit reinziehen. Aber andererseits kann ich nicht weiter einen auf happy Girlfriend tun, wenn ich ihn mit anderen Augen sehe. Was soll ich denn jetzt tun, Susi?" "Hm", war alles, was ihrer Stiefmutter dazu einfiel. "Mama?", schrie Mira da die Treppe hinauf. "Torben hat wieder gekotzt!... Mama? Mama!" Wildes Treppengepolter. Anastasia fasste Susi am Ärmel und sah sie flehend an. "Bitte - verrate mich nicht." Doch Susi war bereits aufgesprungen und hatte begeistert die Tür aufgerissen. "Mira, komm doch rein. Wir besprechen gerade Anas Liebeskrach. Das ist echt spannender als Kino." Mira betrat zögernd das Badezimmer. "Aber Torben hat gekotzt und es stinkt im ganzen Haus nach-" Sie hielt inne und sah sich um - der Wäschehaufen und Anastasias Gesicht sagten einiges. "Junge, Junge. Das muss aber echt verdammt ernst sein. Ich will Details hören." Mit leuchtenden Augen ließ sie sich in einen Haufen von Henrys Boxershorts plumpsen. "Du blöde Verräterin!", keifte Ana Susi an, die eifrig in die Hände klatschte. "Ich wusste von Anfang an, dass ich dich nicht hätte um Rat bitten sollen!" Fassungslos starrte sie ihre Stiefmutter an, aber die zeigte sich nicht besonders reumütig. "Was hast du denn? Geteiltes Leid ist halbes Leid." "Ja, und zu viele Köche verderben den Brei", konterte Anastasia mürrisch. "Wenn ich das richtig verstehe, ist der Brei bereits verdorben", fuhr Mira dazwischen, ehe Susi eine weitere Weisheit zum besten geben konnte. Ana sank ergeben in sich zusammen. "Da hast du auch wieder recht." So kurz gefasst wie möglich schilderte sie ihrer Schwester, was sich gestern im Puff zugetragen hatte und was sie von Linda erfahren musste. "Jetzt weiß ich nicht, wie ich ihm begegnen soll", schloss sie schniefend. "Distanziert und ignorant oder freundlich und nichts ahnend? Vielleicht sollte ich auch direkt auf Angriff gehen und ihm die Wahrheit sagen, ich hab keine Ahnung." Sie zog die Schultern hoch und machte ein hilfloses Gesicht. Mira blies die Wangen auf und dachte nach. "Das ist ja echt eine vertrackte Geschichte. Aber ich finde, du solltest ihm ehrlich begegnen, weil - Lügen machen alles nur noch schlimmer." "Aber er sollte sie gar nicht erst in diese Lage bringen!", rief Susi empört, ehe sie nach Anas Hand griff. "Ich wäre ja auch nicht in einer solchen Lage, wenn Linda ihre Klappe gehalten hätte." Anastasia sah von der einen zur anderen. "Versteht ihr? Ich sollte das gar nicht wissen! Wahrscheinlich bleibt mir gar nichts anderes übrig, als so weiterzumachen wie bisher." Mira schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre weizenblonden Locken munter mit hüpften. "Nein. M-m. Wenn du schon zu feige bist, um ihm die Wahrheit zu sagen, dann solltest du wenigstens erst mal auf Abstand gehen, bis du dir im Klaren bist. Hier ist jetzt cool Play gefragt." "Oder du denkst dir eine Lüge aus und verlässt ihn", warf Susi schulterzuckend ein. "Solche Typen klauen dir nur das Herz, meine Liebe. Du musst ihn hinter dir lassen, bevor es zu spät ist." Anastasia vergrub das Gesicht in den Händen. "Ihr macht mich noch ganz verrückt!" "Nein, Mama", sagte Mira, auf einmal die Ruhe in Person. "Deine Idee ist zwar abgefahren, bringt Ana aber auch nicht weiter. Wir müssen einen Weg finden, der bestmöglich zu einem Happy End führt. Vielleicht gibt es ja Chancen für die beiden, wenn sie sich erst mal ausgesprochen haben." Anastasia sah Mira verblüfft an. "Seit wann setzt du dich für mein persönliches Happy End ein? Du hast doch bis jetzt immer dagegen gearbeitet." Mira verdrehte die Augen und winkte ab. "Das hat hier nichts mehr zu suchen. Also - was sagst du? Willst du ihn behalten, folgst du meiner Methode: Distanz und Abstand. Er wird schon merken, ob was nicht stimmt und dann schaut ihr weiter - vielleicht ist er gar nicht so wütend, dass Linda dich eingeweiht hat. Vielleicht gibt es für alles eine plausible Erklärung und du machst hier umsonst alle Pferde heiß. Das beste ist, du sprichst ihn einfach drauf an." "Distanz und Abstand sind das gleiche, Mira", sagte Anastasia trocken, aber ihre Miene war schon etwas hoffnungsfroher. Mira stöhnte leise auf. "Wie auch immer, Fräulein Germanistik. Wenn du aber der Meinung ist, dass es sich bei Tim um einen Voll-Arsch handelt, der einfach keine Manieren hat, dann tust du, wozu Mama dir geraten hat: Du tischst ihm eine verrückte Lüge auf und lässt ihn hinter dir." "Wenn du klug bist", fügte Susi nickend hinzu. Anastasia war hin und hergerissen. Die beiden hatten sie eher verunsichert als Licht in die Sache zu bringen. Im Moment wollte sie Tim weder sehen noch sprechen, was natürlich für Susis Methode zählen würde - außerdem hatte ihre Stiefmutter mehr Lebenserfahrung als sie und Mira zusammen. Andererseits war sie auch vollkommen verrückt. Miras Sicht der Dinge hörte sich weit vernünftiger an und irgendwie hatte Anastasia das Gefühl, dass die Kleine die einzige war, die das Ganze einigermaßen objektiv betrachtete. Und genau genommen hatte sie natürlich recht: Anastasia würde sich nur in ein Netz aus Lügen und Intrigen weben, wenn sie erst einmal damit anfing. Und ein Teil tief in ihr hatte Sehnsucht nach Tim - nach seinen köstlichen Lippen, nach dem akkuraten, männlichen Gesicht mit den steinernen Zügen, nach dem schmutzig blonden Haar und den unergründlichen grün-blauen Augen. Nach seinen starken Händen und seiner witzigen Intelligenz, nach seinem Humor und seinem Taktgefühl. Aber er hatte ihr Vertrauen missbraucht. Letzendlich lautete ihre Antwort: "Ich weiß es nicht." Und das stimmte. Vielleicht musste sie einfach noch einmal eine Nacht drüber schlafen, bis sie mehr wusste. Morgen war Sonntag und Tim würde seinen Tag mit seiner Familie im Aquazoo verbringen - warum auch immer - und sie hatte genügend Zeit, um sich die verschiedenen Strategien durch den Kopf gehen zu lassen. Für den Moment brauchte sie einfach Ruhe.

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