Kapitel 1

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„And I still remember the day everything changed"
- Jessica Mauboy

„Was ist hiermit?" Victoria kommt aus der großen Umkleidekabine von Prada. Ihr Körper ist mit einem rosa Kleid umhüllt, welches sie wie ein Bonbon aussehen lässt. Ich wusste schon, dass dieses Kleid vielleicht an einem fünfjährigen Mädchen süß aussieht, aber bestimmt nicht an meiner mittlerweile volljährigen Freundin, als ihr die sogenannte Modeberaterin das Kleid in die Hand gedrückt hat.
Skeptisch verziehe ich mein Gesicht, während Vicky völlig begeistert zu sein scheint. „Nein", sage ich trocken. „Du siehst aus wie einer Süßwarenabteilung entsprungen."
„Du bist gemein", antwortet meine beste Freundin gereizt, während sie sich umdreht und wieder in der Kabine verschwindet. Am Ende hört sich ja doch immer auf mich, jedenfalls wenn es um Mode geht.
„Nein, ich schütze dich nur vor einem riesigen Modedebakel." Ich weiß genau, dass Vicky gerade ihre Augen verdreht, immerhin kennen wir uns schon seit Ewigkeiten. Victoria Brown ist seit ich denken kann meine beste Freundin. Während unsere Eltern gemeinsam in den Golfclub gegangen sind, verbrachte Victoria ihre Zeit bei mir Zuhause. Seitdem sind wir unzertrennlich. Wir haben gute und schlechte Zeiten zusammen durchgemacht und uns so gut wie jeden Tag gesehen. Aber das wird sich bald ändern.
Ich seufze, stehe dann aber auf, um nach einem anderen, weniger schrillen Kleid für meine Freundin zu suchen. Sofort springt mir ein schlichtes schwarzes Kleid mit glitzernden Trägern ins Auge. Das ist perfekt, denke ich mir und nehme es mit zur Umkleidekabine.
„Hier probier das." Ich reiche ihr das Kleid und warte darauf, dass sie aus der Umkleide tritt. Es sitzt wie angegossen. Ihre Kurven, auf die ich schon immer ein wenig neidisch war, und die langen Beine werden perfekt betont. Mit den passenden Schuhen würde William seine Augen den ganzen Abend nicht von ihr lassen können.
„So wirst du heute Abend nicht alleine nach Hause gehen." Meine Freundin starrt mich kurz entsetzt an, grinst einen Moment später aber verschwörerisch. „Ich hoffe doch."
Sie ist schon lange in William verknallt und ich sehe schon, wie sich ihre Freundschaft am heutigen Abend in eine ganz andere Richtung entwickelt als bisher. Ich hoffe nur, dass sie sich bewusst ist, dass William meistens nicht mehr als Spaß im Sinn hat. So gerne ich ihr das immer wieder sagen würde, weiß ich doch, dass Vicky in diesem Fall ganz sicher nicht auf mich hören wird.
Vicky kommt ganz nach ihrem Vater. Sie ist stur und macht meistens genau das, was sie nicht tun soll. Würde ich ihr sagen, dass sie heute Abend aufpassen soll, dann würde sie sich erst recht an Will ranmachen. Deshalb sage ich einfach nichts. Immerhin hat sie das grauenvolle pinke Kleid im Laden gelassen.
Nachdem wir auch neue Schuhe und Schmuck ergattern konnten, feiern wir dies bei einem Kaffee in unserem liebsten Lokal.
Bei Chai Latte und Cappuccino lassen wir unseren Tag Revue passieren. Seitdem ich das Claire's Anfang des Jahres entdeckt habe, bin ich jede Woche hier, um mir mein absolutes Lieblingsgetränk, einen Cappuccino mit Haselnuss-Sirup und gesüßter Mandelmilch, zu kaufen. Das Café liegt in einer Seitengasse am Piccadilly Circus und hat mich direkt mit seinem außergewöhnlichen Charme überzeugt. Der loftähnliche Stil kombiniert mit den gemütlichen Sitzmöglichkeiten lädt dazu ein, den Nachmittag bei einem heißen Getränk ausklingen zu lassen.
„Emma!", lacht Vicky auf und hält mir ihr Handy vor die Nase. Darauf erkenne ich das geöffnete Instagramprofil von Elaine. Es zeigt ein Foto, auf dem unsere Mitschülerin mit einem Duckface in die Kamera guckt. Sie trägt ein Oberteil mit einem schrecklichen Blumenmuster, welches schon furchtbar war als ihre Schwester es vor einiger Zeit getragen hat.
„Was hat die sich denn dabei gedacht?", schnaube ich.
„Den schlechten Geschmack hat sie von ihrer Schwester geerbt. Womit sie wohl heute Abend auftaucht." Theatralisch verdreht Vicky ihre Augen, während sie einen Schluck von ihrem Kaffee nimmt.
„Vielleicht in dem rosa Kleid von gerade", witzele ich, ernte jedoch nur einen bösen Blick von meiner besten Freundin.
Sie zuckt mit den Schultern und setzt hinterher: „Eins ist sicher, peinlich wird's."
Nachdem wir noch eine ganze Zeit lang über die Geschehnisse der letzten Tage und die Modefauxpas unserer Freunde und Feinde geredet haben, machen wir uns auf den Weg nach Hause. Wie immer steht Jones pünktlich bereit und öffnet die Tür des Bentleys.

Als ich die Tür unserer Stadtvilla im Westend von London öffne, strömt mir der Geruch frischer Blumen entgegen. Genauer gesagt der Geruch meiner Lieblingsblumen Ranunkeln. Diese Blume findet man immer in unserem Haus, egal in welcher Farbe und zu welcher Jahreszeit. Ich liebe die farbige Vielfalt dieser Blume und, dass sie für Schönheit und Charme steht. Die Ranunkel ist empfindlich, blüht aber bei guter Pflege auf und zeigt ihre volle Pracht. 
Nach einem kurzen Tief während der Autofahrt, finde ich nun neue Motivation noch eine Sporteinheit in unserem Fitnessraum zu absolvieren, bevor ich mich für die Party später frisch mache.
Ich entschließe mich für eine halbe Stunde auf dem Laufband. Während des Laufens hänge ich meinen Gedanken nach. In zwei Tagen startet die Uni und auch, wenn ich es nie zugeben würde, bin ich ein wenig nervös. Ich habe in den letzten Jahren immer den gleichen Tagesablauf gehabt und bin von denselben Leuten umgeben gewesen, was sich nun ändern würde. Vicky und ich werden uns nicht mehr den ganzen Tag sehen. Sie hat sich für ein Literatur Studium entschieden, während ich die nächsten drei Jahre alles über Wirtschaft lernen würde, um dem Ziel nachzugehen, die Firma meiner Familie übernehmen zu können. Für mich war diese Zukunft schon immer vorbestimmt gewesen, aber ich kann mich nicht beschweren. Was kann es besseres geben als die Führung eines wahren Modeimperiums übernehmen zu können?
Ich liebe Mode. Für mich gibt es keine andere Kunst, durch welche man sich und seine Persönlichkeit so gut ausdrücken kann. Deswegen habe ich auch nie darüber nachgedacht, etwas anderes zu machen wie es einige von meinen Freunden geplant haben.
Victoria stand es immer offen mit ihrem Bruder gemeinsam die Hotelkette ihrer Eltern zu übernehmen, aber sie wollte das nie. Schon früh stand fest, dass der Weg meiner besten Freundin in eine andere Richtung gehen würde.

Als ich nach meiner kurzen Sporteinheit zurück in mein Zimmer gehe, kommt mir der Geruch von frisch gekochtem Essen schon im Eingangsbereich entgegen.
Unser Koch Pierre beherrscht sein Handwerk perfekt, was er sicherlich seiner Ausbildung in einem der nobelsten Restaurants Frankreichs zu verdanken hat. Pierre arbeitet schon einige Jahre bei uns und wohnt mit seiner Frau und ihrer kleinen Tochter in einem unserer Häuser für die Angestellten. Ich kann mir ihn und sein Essen schon gar nicht mehr aus meinem Alltag wegdenken.
Schnell verschwinde ich unter die Dusche, um pünktlich zum Essen damit fertig zu sein.
„Miss Montgommery, wie war Ihr Tag?" fragt mich Pierre mit seinem ausgeprägten französischen Akzent, als ich mich an unseren Mahagoni-Esstisch setze.
Mein Vater ist noch nicht da, aber er wird sicher in einigen Minuten kommen. So oft wie es uns möglich ist, versuchen wir gemeinsam zu Abend zu essen. In der Firma gibt es immer viel zu tun, sodass mein Vater eigentlich ständig bei der Arbeit ist. Die gemeinsame Zeit weiß ich dadurch noch ein wenig mehr zu schätzen. Seitdem meine Mutter nicht mehr da ist, ist dies für mich noch wichtiger geworden.
Bevor ich mich in meinen Gedanken verliere, wende ich mich wieder Pierre zu.
„Ich hatte einen schönen Tag, Vicky und ich waren shoppen", informiere ich unseren Koch höflich, als ich höre, dass sich die Eingangstür öffnet. Wenige Sekunden später kommt mein Vater in das Esszimmer.
„Hey, Dad!", begrüße ich ihn mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Mit einem warmen Lächeln sieht er mich an, bevor er sich mir gegenübersetzt. „Wie war die Arbeit?"
Ich höre ihm gespannt zu, als er von einem Meeting mit einer neuen Schneiderin und der Finanzplanung für das nächste Quartal erzählt.
Während er redet betrachte ich ihn und mir fallen die grauen Strähnen in seinem Haar auf, genau wie die immer tiefer werdenden Falten in seinem Gesicht. Er sieht älter aus, vielleicht ist es in letzter Zeit stressig in der Firma. Es wird Zeit, dass ich ihn in einigen Jahren unterstützen kann.
Als Pierre die Vorspeise serviert, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Es gibt eines seiner Spezialitäten, eine klassische französische Muschelsuppe. Als französischer Koch beherrscht er dieses Gericht natürlich bestens.
Die Zeit vergeht wie im Flug und als ich auf die Uhr sehe, ist es schon fast acht Uhr. Da ich mich schon bald mit Vicky treffen werde, muss ich mich jetzt ranhalten und mich schnell fertig machen.
Zuerst widme ich mich meinen widerspenstigen Haaren, die ich mit einem Glätteisen glätte. Pflichtprogramm für mich, mit meinen Naturwellen gehe ich nicht vor die Tür. Während ich Strähne für Strähne bearbeite, betrachte ich meine goldbraunen Haare, die mein müde aussehendes Gesicht einrahmen.
Ich sehe schon die Schlagzeile vor meinem inneren Auge, würde ich so aus dem Haus gehen: "Kontrolle über ihr Leben verloren - Probleme beim Modelabel Montgommery?" So oder so ähnliche würde sie sicher klingen.
Sobald meine Haare glatt über meine Schultern fallen, befasse ich mich mit meinem Make-Up, welches ich augenscheinlich dringend nötig habe. Die dunkeln Augenringe und der fahle Gesichtston verraten, wie schlecht ich in den letzten Nächten geschlafen haben.
Ich freue mich zwar darauf mein Studium und somit einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, dennoch plagen mich Selbstzweifel, ob ich die neuen Herausforderungen bewältigen kann. Immerhin steht mir die große Aufgabe bevor, eines der größten Modelabel weltweit zu führen und damit meinen Vater stolz zu machen. Nichts wäre schlimmer für mich als Enttäuschung in dem Blick meines Vaters zu sehen, wo er doch so viel Hoffnung in mich setzt.
Um den Abend nicht schon mit schlechter Laune zu starten, schüttle ich diese Gedanken von mir ab und entscheide mich für einen Smokey–Eye Look. Dieser betont meine blauen Augen besonders und verleiht mir einen verruchten Look. Zusammen mit meinem Kleid und den neuen Schuhen ist mein Look perfekt.
Bevor ich rausgehe, betrachte ich mich noch einmal in der großen Spiegelwand meines Ankleidezimmers. Ich atme tief ein, straffe die Schultern und setze mein schönstes Lächeln auf. Die Fassade des selbstbewussten Mädchens werde ich, wie immer, in der Öffentlichkeit aufrechterhalten.
Pünktlich, als ich aus unserem Haus trete, fährt Jones in dem Bentley über die Einfahrt und hält genau vor dem Eingang.
„Guten Abend, Miss Montgommery." Jones öffnet mir die Tür, verzieht dabei aber keine Miene.
Jones war, bevor er bei uns angefangen hat, beim Militär und hat seitdem seine kühle, unnahbare Ausstrahlung nie abgelegt. Wenn ich etwas an ihm schätze, ist es genau das. Jones ist zuverlässig und tut stets so als würde er die Gespräche im Auto gar nicht mitbekommen.
„Hallo, Jones", antworte ich ihm genauso kühl, während ich ins Auto steige. Sobald er die Tür geschlossen hat, hole ich mein Handy aus meiner Tasche, antworte auf neue Nachrichten und schaue mir die neuesten Bilder meiner Freunde auf Instagram an.
Die Fahrt zu Vicky dauert keine zehn Minuten und genauso lange warten wir auch noch vor dem imposanten Hotelkomplex.
Wie es sich für eine Familie gehört, die eine Luxushotelkette betreibt, wohnt die Familie Brown in der obersten Etage des Browns' Palace. Das 5-Sterne Hotel ist neben London auch noch in Dubai, Berlin, Paris und New York zu finden und nicht selten bewohnen wahre Promis eine der Luxussuiten. Als wir klein waren, haben Victoria und ich immer wieder versucht, einem der Promis aufzulauern, wurden aber entweder von Vickys Eltern oder einem der Angestellten erwischt. Bei der Erinnerung an die alten Zeiten muss ich lächeln und das Lächeln verblasst erst als Jones aussteigt, um meiner besten Freundin die Tür zu öffnen.
Mit großen Schritten kommt Vicky auf das Auto zu. Sie sieht umwerfend aus. Wenn ihre Beine heute Mittag im Geschäft schon lang ausgesehen haben, so sehen sie nun mit ihren glitzernden High Heels unendlich lang aus. Ihre blonden Haare hat sie zu großen, schwungvollen Locken gedreht, die ihrem schicken Outfit etwas lässiges verleihen. Ihr einnehmendes Lächeln lässt sie nur noch umwerfender aussehen. Ein kleiner Stich durchfährt mich. Victoria ist wunderschön. Meine beste Freundin ist der Typ Mensch, den jeder mag. Sie hat immer ein Lächeln auf dem Gesicht und scheint sich in keiner Situation unwohl zu fühlen. Für ihr perfektes Äußeres und ihr schier endloses Selbstvertrauen würde ich einiges geben.
"Warum versuche ich überhaupt noch pünktlich zu kommen? Du bist ja eh immer zu spät", kommentiere ich Vickys unpünktliches Erscheinen, als sie ins Auto einsteigt.
Ich sehe wie sie die Augen verdreht bevor sie mir antwortet. "Auch schön dich zu sehen, Emilia." Breit grinst sie mich an.
Victoria weiß, dass ich es nicht mag, bei meinem ganzen Namen genannt zu werden. Ich sehe sie kurz böse an und blicke dann aus dem Fenster.
Da sie zu merken scheint, dass ich ihr nicht antworten werde, fügt sie noch hinzu: „Du siehst super aus. Das Kleid ist umwerfend." Ich warte bis einige Lichter an uns vorbeigezogen sind, dann erst drehe ich mich zu ihr um.
"Du siehst auch toll aus", gebe ich zurück.

Jones hält direkt vor dem Eingang des Clubs. Schon von außen sieht man, wie nobel es hier ist.
Die schwarze Fassade ist mit silbernen Akzenten bestückt, die dem Gebäude ein extravagantes Flair beschert. Um neugierige Blicke abzuhalten, sind die deckenhohen schmalen Fenster verdunkelt. Offensichtlich nicht umsonst, denn vor dem Gebäude tummeln sich schon einige Paparazzi, die allzeit bereit ihre Kameras in den Händen halten.
Ohne die Warteschlange vor dem Eingang zu beachten, laufen wir den ausgelegten, ebenfalls schwarzen Teppich entlang direkt zu der Security. Trotzdem sind wir nicht unentdeckt geblieben, denn einige Male sehe ich ein Licht aufflackern. Glücklicherweise stehen wir auf der VIP Liste und können den Blitzlichtern schnell entgehen.
Von den wummernden Bässen empfangen, treten wir in den Club und versuchen, uns einen Weg zum VIP Bereich zu bahnen. Vicky reckt währenddessen ihren Kopf in die Höhe und ich weiß ganz genau, dass sie nach William Ausschau hält.
Innerlich schüttele ich den Kopf, sie ist unverbesserlich.
Im VIP Bereich warten schon einige unserer Freunde auf uns. Sie sitzen auf samtschwarzen Loungemöbeln von welchen aus manche die Menschen auf der Tanzfläche kritische beäugen und andere ausgelassen reden.
Bei dem ersten Kellner den Vicky entdeckt, bestellt sie eine Flasche Champagner, bevor sie sich neben William auf das weiche Polster fallen lässt.
Ich schaue in die Runde und mein Blick bleibt an Elaine hängen. Ich betrachte abschätzig ihr Outfit. Es toppt mal wieder alles und sie sieht tatsächlich aus wie ein Bonbon, ein Minzbonbon mit einer dicken Schleife auf der üppigen Oberweite. Wenn Vicky sich für das pinke Kleid entschieden hätte, hätten die beiden wirklich wunderbar zusammengepasst. Ich verdrehe die Augen, dieses Mädchen hat einfach keinen Geschmack.
Dass sie so in den Club gekommen ist, hat sie auch nur ihrem Namen zu verdanken. Ob sie wirklich jemand in unserer Gruppe dabeihaben will, bezweifle ich, aber als Zwillingsschwester von Simon können wir sie wohl kaum wegschicken.
Elaine ist zwar ganz nett, kann mit ihrer kindlichen Art aber ziemlich anstrengend sein. Außerdem scheint ihr in den letzten Jahren ihr Geschmack abhandengekommen zu sein. So kann doch niemand rumlaufen und das auch noch ernst meinen.
Jessica reicht mir ein Glas Champagner und verdreht zustimmend die Augen, als sie meinem abwertenden Blick folgt. Ich nehme einen Schluck, spüre das Prickeln in meiner Magengrube und genieße das Gefühl. Dieser Abend soll unvergesslich werden. In ein paar Tagen geht die Uni los und alles wird sich verändern.
Damit meine Gedanken nicht direkt wieder abschweifen und ich mich auf meine Freunde und die sicher unvergessliche Party konzentrieren kann, betrachte ich den Club genauer.
Der VIP Bereich befindet sich auf einer Galerie, von welcher man die untenliegende Tanzfläche perfekt beobachten kann. Hoffentlich hält sich der DJ zu der frühen Stunde noch ein wenig zurück, denn die Musik jetzt wird sicher nicht besonders viele auf die Tanzfläche locken. Nur wenige sind am Tanzen und die wenigen scheinen kein tänzerisches Talent mitgebracht zu haben. Sie bewegen ihre Hüften vollkommen unpassend zum Takt, zudem werden ab und zu Hände in die Luft geworfen, was das Ganze noch lächerlicher aussehen lässt. Ich verziehe kurz das Gesicht, widme mich dann aber wieder der Einrichtung.
Direkt über der Tanzfläche hängt ein riesiger Kronleuchter, in welchem sich das wenige Licht glitzernd spiegelt. Rechts davon ist die Bar hinter der drei Barkeeper stehen, die, passend zur restlichen Einrichtung, komplett schwarz gekleidet sind. Die Bar ist komplett überfüllt, weshalb ich froh bin, dass wir von den Kellnern bedient werden und uns nicht durch das Getümmel drängen müssen. Die wenige Deko, die zu sehen ist, ist in Silber gehalten. Im Großen und Ganzen gefällt mir der Club wirklich gut und ich hoffe, dass er hält, was er verspricht.
Als ich meinen Blick schweifen lasse erblicke ich Logan, der auf unsere Gruppe zukommt. Logan, mit dem ich seit über einem Jahr zusammen bin, sieht unverschämt gut aus und hat immer ein überlegendes Lächeln auf den Lippen als wäre er der Klügste hier im Raum.
Wir passen wirklich gut zusammen, gingen auf dieselbe Schule, haben ähnliche Ansichten und verkehren in gleichen Kreisen. Mich durchfährt ein leichtes Kribbeln, als er uns begrüßt und mir einen leichten Kuss aufdrückt.
„Hey", murmele ich und küsse ihn ein zweites Mal. Ich lächele ihn an und sehe ihm dabei in die grauen Augen, die voller Selbstsicherheit sind.
Ich will gerade ansetzen, etwas zu sagen, als William sich zu uns herüberlehnt. „Schon bereit für den großen Umzug?", fragt er an Logan gewandt.
Sofort verkrampfe ich mich, was Logan in seiner Begeisterung jedoch nicht bemerkt. „Klar, endlich komme ich mal hier raus."
Seine Antwort ist nicht gerade das, was ich hören will. Ich weiß, dass er sich auf die neue Herausforderung freut, aber ein bisschen sollte es ihn doch schon stören, dass er von mir weggeht.
Logan ist einer der wenigen, der die Stadt für das Studium verlässt. Schon immer hat er hier weggewollt, am liebsten würde er wohl noch viel weiter als bis Cambridge weggehen, aber daraus ist nichts geworden. Er hat, locker wie er immer war, seine Unterlagen nicht pünktlich abgeschickt. Während er sich von seinen Eltern eine große Standpauke über Zuverlässigkeit und der Wichtigkeit seiner Zukunft anhören musste, bin ich froh, dass mein Freund nicht den Kontinent verlässt und ich ihn somit wenigstens alle paar Wochen zu Gesicht bekommen würde.
Logan und William unterhalten sich noch eine Weile über seinen Umzug und die Uni. Währenddessen starre ich mein Champagnerglas an und trinke es in einem Zug aus. Der Alkohol wird meiner Stimmung sicher guttun und ich möchte meinen Freunden und mir den Abend nicht durch miese Gedanken verderben.
Ich sehe zu Vicky, die mich aufmunternd anlächelt und mir ihr Glas rüberschiebt. Dankend nehme ich es und trinke es ebenfalls in einem Schluck leer.
Victoria zwinkert mir zu, dann versucht sie Williams Aufmerksamkeit von Logan wegzulenken. Sicher nicht ganz uneigennützig.
Meine beste Freundin klimpert verführerisch mit ihren langen Wimpern und, wie nicht anders zu erwarten, springt William sofort darauf an. Ich muss grinsen. Typisch Vicky, sie bekommt immer, was sie will.
„Du siehst übrigens toll aus heute." Endlich hat Logan sich wieder zu mir gewandt. Seine rechte Hand legt er auf mein Bein, während er die linke über meinen Arm gleiten lässt.
Ich übergehe sein Kompliment. „Wann fährst du morgen?", frage ich stattdessen. Er zuckt mit den Schultern und trinkt einen großen Schluck seines Whiskeys. „Mal sehen."
Wirklich zufrieden bin ich mit dieser Antwort nicht, belasse es aber dabei. Ich kann ihn so oder so nicht beeinflussen. Ich lächele meinen Freund also betont glücklich an und greife dann nach meinem nun wieder aufgefüllten Champagnerglas. Der Kellner hat ziemlich schnell verstanden, dass dieses Glas nie leer sein sollte.
Während ich einen großen Schluck trinke, sehe ich zu Elaine in ihrem Bonbonkleid. Ein recht attraktiver Junge steht vor ihr, die Hand auf ihre Taille gelegt. Er muss entweder ziemlich voll oder high sein, wenn er wirklich was von dem Mädchen will. Vielleicht auch beides. Er flüstert ihr was ins Ohr, woraufhin sie anfängt zu kichern.
Mein Blick geht weiter zu Jessica. Jessica Walden ist letztes Jahr von New York nach London, ins Exil wie sie sagt, geschickt worden, aufgrund irgendeines Skandals. Was genau passiert ist, wissen wir bis heute nicht. Ihr Eltern müssen ziemlich viel bezahlt haben, damit darüber nichts mehr im Internet zu finden ist.
Die Familie Walden handelt mit Kunst, viel mehr weiß ich darüber nicht. Jess erzählt kaum von ihren Eltern und es hat mich nie genug interessiert, um selbst zu recherchieren. Als Jessica meinen Blick bemerkt, hebt sie ihr Glas und trinkt einen Schluck. Ich tue es ihr nach. Dann nickt Jessica zur Tanzfläche. Das kommt mir gelegen. Vielleicht würden wenigstens beim Tanzen die Gedanken in meinem Kopf stillhalten.
Als Vicky bemerkt, was wir vorhaben, löst sie sich von William und folgt uns.

Mittlerweile legt der DJ wesentlich bessere Musik auf, sodass sich die Tanzfläche gefüllt hat. Trotzdem finden meine Freunde und ich noch einen guten Platz zum Tanzen in der Mitte der Tanzfläche. Der DJ legt größtenteils HipHop oder Dance Musik auf. Ich spüre den Bass in meinen Lungen und bewege mich rhythmisch zur Musik, weiß aber, dass Vicky und Jess ihre Körper besser bewegen können als ich. Sie lassen auf der Tanzfläche einfach los, während ich nicht aufhören kann, über jede Bewegung nachzudenken. Das mache ich schon immer. In jedem Bereich meines Lebens möchte ich die Kontrolle behalten. Deswegen trinke ich zwar Alkohol, möchte aber nicht über die Stränge schlagen und am nächsten Tag nicht mehr wissen, was passiert ist. Und deshalb fürchte ich mich auch so vor der Zukunft. Ich weiß zwar, wo mein Weg hinführen soll, trotzdem steht doch so vieles in den Sternen. Es ändert sich einfach zu viel.

Erst als sich Hände auf meine Hüfte legen, komme ich wieder zurück in die Realität. Dass es Logan ist, erkenne ich an seinem intensiven Parfum, von welchem er immer ein bisschen zu viel aufträgt. Logan gibt mir einen kurzen Kuss auf die Wange, bevor er sich hinter mir im Takt der Musik bewegt. Ich gebe mich der Musik und seinen Bewegungen hin, an welche ich mich perfekt anpassen kann. Ich spüre seinen hitzigen Atem an meinem Nacken, wodurch sich augenblicklich eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper ausbreitet. Heiße Küsse wandern von meinem Nacken über meinem Hals bis hin zu meinem Ohr. Erregt drehe ich mich um und schaue ihn begierig an. In seinen Augen zeichnet sich ein dunkles Verlangen ab. Er beugt sich zu mir rüber, um seine Lippen auf meine zu legen. Mich durchfährt eine wohlige Wärme und ich erwidere seinen leidenschaftlichen Kuss. Zunächst lasse ich mich auf die Leidenschaft ein, doch schnell wird mir dieser Kuss zu fordernd. Er drückt seine Lippen zu hart auf meine. Ich fühle mich unwohl und in der Menschenmenge beobachtet. Langsam löse ich mich aus dem Kuss mit der Ausflucht, mich eben frisch machen zu wollen.
Mit klopfendem Herzen mache ich mich auf den Weg zu den Toiletten. Es fällt mir schwer, mich durch all die tanzenden Körper zu bewegen, schaffe es schließlich aber zu einem kleinen Flur, in dem die Toiletten liegen.
Als ich die Tür zur Damentoilette aufdrücke, fällt mir auf wie ruhig es auf einmal ist. Ich genieße die plötzliche Ruhe und sehe mich um. Genau wie der Rest des Clubs, sind auch die Toilettenräume edel eingerichtet. Die schwarzen Marmorfliesen führen den Stil des Clubs auch in den Toiletten fort.
Ich gehe auf das Edelstahl-Waschbecken zu, betätige den silbernen Wasserhahn und spritze mir etwas Wasser ins Gesicht. Während ich die kühle Luft des Raums einatme, merke wie sich mein Puls langsam wieder normalisiert und lasse die Situation von gerade auf mich wirken.
Logan ist ein attraktiver Mann und unsere Beziehung verläuft harmonisch, jedoch hatte ich mir eine Beziehung immer anders vorgestellt. Klar war dieser Kuss gerade leidenschaftlich, aber die meiste Zeit habe ich das Gefühl, etwas fehlt mir. Vielleicht fehlt uns diese tiefe Verbindung, von der man doch immer hört, dieses Gefühl niemals ohne einander glücklich sein zu können und das Prickeln auf der Haut bei jedem Blick. Jedoch bezweifle ich, dass es sowas wirklich gibt. Wie schon den ganzen Abend über, versuche ich meine wirren Gedanken abzuschütteln. Ich darf meine Zukunftsängste und Zweifel nicht auf meine Beziehung übertragen.
Ich sollte glücklich sein, ich habe, was viele andere sich wünschen. Ich konnte mir schon immer Sachen leisten, von denen andere Leute nur träumen und stehe dabei nicht unter dem Druck, eine Zukunft zu haben, die ich mir für mich nicht vorstellen kann. Mein Vater hat mir immer gesagt, dass ich meinen Träumen folgen soll, während meinen Freunden, wie William oder Logan, schon immer vorbestimmt war, die Firma ihrer Eltern zu übernehmen. Dass ich mir nichts besseres vorstellen kann als genau dies zu tun, ist perfekt.
Außerdem habe ich einen äußerst attraktiven Freund, der, wie mir jeder meiner Freunde bestätigen würde, super zu mir passt.
Logan wird ab morgen über 60 Meilen von mir entfernt sein. Ich denke, ich möchte mir nur einreden, dass mich unsere Beziehung nicht erfüllt, um einer Enttäuschung zu entgehen falls diese Entfernung unserer Beziehung schaden wird.
Alles wird gut, wiederhole ich immer wieder wie ein Mantra in meinem Kopf.
Nachdem ich mir das ein paar Mal gesagt habe, setze ich mein Lächeln auf, richte mein Kleid und verlasse die Toilette erhobenen Hauptes.

Die Stimmung meiner Freunde hat sich in der kurzen Zeit, in der ich weg war, von vollkommen ausgelassen in absolut angespannt geändert.
Nachdem ich sie auf der Tanzfläche nicht mehr erblickt habe, entdecke ich Vicky, Jess und Logan, die einen Pulk um etwas bilden. Jedoch muss ich nähertreten, um zu erkennen, worum es sich handelt.
Als ich mich neben Vicky stelle, erkenne ich Simon, Elaines Zwillingsbruder, der mit einem Jungen diskutiert. Erst auf den zweiten Blick kann ich ihn als Elaines Flirt von vorhin identifizieren. Diese steht wieder daneben und schreit ihren Bruder geradezu hysterisch an: „Lass ihn in Ruhe, Simon. Er hat doch überhaupt nichts gemacht."
„Ich habe genau gesehen, wie er dich angefasst hat!", brüllt er zurück und fixiert weiterhin den Jungen.
Ich frage mich, wie die Situation schon wieder so eskalieren konnte. Wahrscheinlich hat Simon, ganz typisch für ihn, zu viel getrunken und reagiert über. Der Kerl hat es schon immer auf Stress ausgelegt. Ein Blick in sein Gesicht genügt, um meinen Verdacht zu bestätigen, ein Schleier liegt über seinem Blick und am Hals bilden sich schon rote Flecken.
„Nun hol ihn da weg, bevor er etwas tut, was ihm morgen leidtut", zische ich Logan zu. Er wirkt etwas zu belustigt von der Situation und ich sehe wie er zögert. Logan richtet sich dann aber doch auf und geht auf die beiden Betrunkenen zu.
Elaine blickt noch immer hektisch zwischen Simon und dem Jungen hin und her. Erleichtert atme ich aus, als ich sehe, wie Logan Simon zum Ausgang zieht. Was wären das für Schlagzeilen gewesen, hätte Simon den armen Jungen hier vor allen Menschen verprügelt.
Wir lassen den Jungen hinter uns und bahnen uns einen Weg hinter Logan und Simon her an die frische Luft. Es steigt Hitze in mir auf, als ich von so vielen tanzenden Menschen angerempelt werde, sodass das Verlangen nach frischer Luft größer wird.
Als wir dann hinaustreten, fühlt sich die kühle Luft an wie ein Schlag ins Gesicht. Elaine, die ihren Bruder mit quietschiger Stimme anschreit, macht das Gefühl in meinem Kopf auch nicht besser.
Sobald sich nicht mehr alles dreht, drehe ich mich zu meinen Freunden um und stelle überrascht fest, dass manche sich zum Gehen wenden und ein Taxi rufen wollen.
Dass Elaine und Simon die Lust vergangen ist, kann ich verstehen, aber immerhin ist es die letzte Party vor einem neuen Lebensabschnitt und die möchte ich nicht um 1 Uhr beenden.
Enttäuscht blicke ich in die Gesichter der anderen die noch unschlüssig am Straßenrand stehen.
„Ach kommt schon Leute, der Abend ist doch noch nicht zu Ende! Lasst uns eine Bar suchen und noch etwas Spaß haben", ruft Vicky überzeugend wie immer in die Runde.
Die anderen nicken zustimmend und ich lächle meine beste Freundin erleichtert an. Logan nimmt meine Hand und übernimmt die Führung unserer kleinen Gruppe.
Wir schlendern durch das nächtliche London und ich fröstle etwas. Die Sommernächte Londons sind für mein knappes Kleid auf jeden Fall zu frisch.
Ich lasse meinen Blick über die erleuchtete Straße schweifen und hoffe wir finden bald einen Laden, in dem noch etwas Betrieb herrscht. Ungerne laufe ich noch länger ziellos durch die Gegend. Ziemlich zielsicher lotst Logan uns jedoch in eine Seitengasse, in der es tatsächlich nicht mehr gibt als ein Laden mit dem Namen Riff. Schon von außen, mit der mit Graffiti verzierten Fassade, entspricht er nicht meinem Geschmack. Der Laden sieht aus wie eine Absteige.
An einem normalen Abend würde ich hier ganz sicher nicht reingehen, aber es ist allemal besser als weiter hier auf der Straße zu stehen, denn langsam wird mir immer kälter und eine Gänsehaut überzieht meinen gesamten Körper.

Like The Sea (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt