Kapitel 36

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36

„I got nothing but you on my mind."

- Lewis Capaldi

Ich spüre Jesses Blick unangenehm lange auf unsere ineinander verschränkten Hände liegen als Leo und ich gemeinsam über den Campus zu unseren Freunden laufen. Liz muss das alles total komisch vorkommen, immerhin war ich am Wochenende am Boden zerstört und heute laufe ich Händchen haltend auf sie zu. Ich fürchte, ich schulde ihr noch eine Erklärung, so wie sie mich mit einer hochgezogenen Augenbraue mustert. Claire und Scott begrüßen uns wie gewohnt freundlich und falls sie meine schlechte Laune am Wochenende mit Leo in Verbindung gebracht haben und sich nun wundern, so verbergen sie es gut. Jesse ist etwas zurückhaltender, aber das ist in den letzten Tagen ja sowieso die Regel. Ich versuche seinen kühlen Blick gekonnt zu ignorieren.

„Hey Leute, wie war denn die Party Samstag?", fragt Leo locker in die Runde. Claire und Scott legen direkt los und erzählen Leo das gleiche wie Liz und mir gestern. Jesse stimmt nur ab und an mit einem knappen Nicken zu. Ich finde er übertreibt ein wenig. Wir kennen uns fast gar nicht, haben noch nicht besonders viel miteinander gesprochen und auch sonst habe ich ihm nie irgendwelche Hoffnungen gemacht. Ich folge gerade Claires Ausführungen über Scotts Tanzstil, da zieht Liz mich beiseite.

„Was zur Hölle ist eigentlich bei euch los? Ich glaube, ich komme da nicht mit", stellt Liz trocken fest. Ich reiße mich von Leos Grübchen los, die sich gebildet haben, weil er grinsend Claire zuhört und es sich wahrscheinlich bildlich vorstellt wie Scott vollkommen betrunken neben dem Takt tanzt.

„Erde an Emma!" Liz schnipst vor meinem Gesichtsfeld und sieht mich wie eine Mutter an, die mit ihrem Kind meckert. Ich schüttle den Kopf und sehe sie an.

„Ja, ich höre dir ja zu. Ich weiß es ja auch nicht", sage ich und zucke mit den Schultern. Ich kann mir ja selbst nicht erklären, was das eine Achterbahnfahrt der Gefühle das mit uns ist.

„Wie du weißt es nicht? Am Samstag wirktest du so traurig, dass ich jeden Moment das Gefühl hatte, du würdest in Tränen ausbrechen."

Ich seufze. Wie soll ich ihr das bloß erklären?

„Es war nur ein blöder Streit. Wir haben es beiseitegelegt und jetzt ist wieder alles gut. Wirklich."

„Mhm", sagt Liz und mustert mich prüfend. „Ich bring ihn um, wenn du wegen ihm nochmal so drauf bist." Ihr Blick ist todernst und ich glaube ihr jedes Wort.

Sobald wir uns zurück in den Kreis zu den anderen stellen, sieht Leo mich fragend an. Natürlich interessiert es das, was Liz und ich so zu bereden hatten, aber ich möchte es ihm jetzt ungern erklären. Deshalb zucke ich nur kurz mit den Schultern und bringe mich dann in das Gespräch der anderen ein. Nach kurzer Zeit fällt mein Blick jedoch auf meine goldene Armbanduhr, die mir anzeigt, dass die Vorlesung sofort schon beginnt. „Leute, wir müssen los, wenn wir nicht zu spät kommen wollen!", erinnere ich Scott, Liz und Claire, welche zustimmend nicken. Ich möchte mich schon zum Gehen abwenden, da hält Leo mich zurück.

„Möchtest du nicht Tschüss sagen?", fragt er und lächelt ein strahlendes Lächeln.

Ohne auf eine Antwort von mir zu warten, legt er seine Lippen auf meine und und ich fühle wie mich Glück durchströmt. Wie kann es sein, dass Glück und Schmerz manchmal so nah aneinander liegen? Noch vor wenigen Tagen hat er in mir den größten Schmerz hervorgerufen und jetzt macht er mich so glücklich wie niemals zuvor. So glücklich wie mich bis jetzt noch niemand gemacht hat.

Ich löse mich sanft von ihm.

„Sehen wir und heute Mittag in der Mensa?", frage ich ihn und hoffe auf eine positive Antwort.

Like The Sea (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt