Erleichtert atmete ich aus, als wir endlich das Haus unserer Gastfamilie erreichten. Der Flug von Hamburg nach Amerika war nervtötend lang. Erst umsteigen in Amsterdam, dann ein weiteres Mal in Minneapolis. Insgesamt fast fünfzehn Stunden unterwegs. Und vor lauter Vorfreude hatten wir nicht geschlafen, stattdessen gegackert wie zwei aufgeregte Hühner. Dafür bekam ich jetzt, kurz vor unserem Ziel, die Rechnung serviert. Mit Mühe unterdrückte ich ein Gähnen.
Die Anstrengung war es wert, überlegte ich grinsend. Ein Jahr als Gastschülerinnen nach Rapid City, Süd-Dakota, an die Central High School, bei derselben Gastfamilie. Mein Herz klopfte so wild vor Aufregung, dass ich fürchtete, jemand würde es hören. Steffi, meine beste Freundin, seitdem wir laufen gelernt hatten, und ich, klebten von klein an aneinander. Als es hieß, dass sie für ein Jahr nach Amerika verschwinden würde, hatte ich mich so lange daheim im Zimmer verkrochen und geheult, bis meine Eltern es auf irgendeine Art arrangiert hatten, dass ich mitflog. Mein Magen verkrampfte beim Gedanken daran, dass es fast nicht geklappt hatte. Mama war überfürsorglich und versuchte krampfhaft, mich vor der großen gefährlichen weiten Welt zu beschützen. Etwas widerwillig, aber mit viel gutem Zureden von meinem Vater, hatte sie es erlaubt. Ich grinste bei der Erinnerung an den Indianertanz, den ich aus Freude klassisch mit dazugehörigem Geheul aufgeführt hatte. Steffi allein losziehen zu lassen, wäre unverantwortlich von mir. Es war meine Pflicht, auf sie aufzupassen und ihr alle nervigen Kerle vom Hals oder anderen Körperteilen fernzuhalten. Bei ihrem Aussehen brauchte sie das.
Ich schielte zu ihr und betrachtete ihre Vorzüge. Mittelgroß, schlank, dennoch Rundungen, wo sie hingehörten, strahlendblaue Augen, eine entzückende Stupsnase und das Beste, helle naturblonde Korkenzieherlocken, die ihr bis zu den Schultern reichten. Ein absoluter Traum.
Ich seufzte innerlich. Trotz gleicher Größe war ich ein paar Kilo schwerer, hatte aalglatte, öde braune Haare und ebenso langweilige haselnussbraune Augen. Wenigstens keine Brille. Das hätte den Graues-Mäuschen-Look perfektioniert. Ich fummelte an meinem geflochtenen Zopf herum, in den ich die Haare wie jeden Tag gezwängt hatte. Sonst war mit der Mähne nichts anzufangen, und ich hasste es, die verfilzten Stellen heraus zu bürsten.
„Anna, träumst du?", Steffis glockenklare Stimme riss mich aus den trübsinnigen Gedanken und dem zugegebenermaßen überflüssigen Selbstmitleid. In ihrer Gegenwart empfand ich meinen Körper oftmals als minderwertig. Schon von klein an, obwohl sie mir nie einen Grund dazu gegeben hatte. Manchmal ärgerte es mich schlechthin, dass sie um ein Vielfaches besser aussah, engelsgleich Geige spielte, zu jeder Feier eingeladen wurde und die Bewunderung aller auf sich zog. Wobei, das Letzte strich ich sofort wieder. Im Mittelpunkt zu stehen war mir nicht in die Wiege gelegt worden. Das überließ ich sogar gerne meiner Freundin. Vor allem bei den Jungs.
„Nein, ich habe mich nur schon mal seelisch darauf vorbereitet, dir ganze Horden von Footballspielern vom Hals zu halten", winkte ich ab, zwang mich zu einem Lächeln. Steffi prustete los, zwinkerte mir vergnügt zu. Kichernd folgten wir unserem Gastvater zum Wohnhaus. Es war nicht so riesig wie die anderen Häuser und Villen in der Umgebung, aber schien dennoch groß genug für eine Familie mit vier Kindern. Dabei hatte unsere Gastfamilie nur eine Tochter.
„Ashley ist noch beim Cheerleader-Training. Sie kommt in etwa zwei Stunden nach Hause", teilte ihr Vater uns mit, bevor er sein klingelndes Smartphone aus seiner Jackentasche fischte.
„Dann faulenzen wir bis zu ihrer Rückkehr, nicht wahr Steffi?" Ich knuffte sie in die Seite, doch ihre Aufmerksamkeit lag völlig woanders, wie ich schnell bemerkte. Vom Nebenhaus winkte uns ein hochgewachsener breitschultriger Typ zu, der in unserem Alter war.
„Hi, ich bin Luke. Ihr seid bestimmt Anna und Steffi. Ashley hat mir erzählt, dass ihr heute ankommt und das kommende Schuljahr in unsere Schule geht." Seine grünen Augen sprühten vor Lebenslust, seine stacheligen kurzen braunen Haare erinnerten mich an einen Igel. Er war mir auf Anhieb sympathisch, obwohl er komplett auf Steffi fixiert zu sein schien. Aber sowas war ich zum Glück gewöhnt. Sie ebenfalls, daher übernahm sie es, uns vorzustellen.
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Ein Jahr in Rapid City
Historical FictionAnna und Steffi, zwei Freundinnen von Kindesbeinen an, wechseln für ein Jahr an eine amerikanische Highschool. Dort läuft allerdings nicht alles so glatt, wie sie es sich vorgestellt hatten. Dabei wird ihre Freundschaft mehr als einmal auf die Probe...