Mittlerweile ritten wir quer über die weite Prärie. Den Schutz des Waldes hatten wir schon lange hinter uns gelassen, da wir die Pferde und Wasser besaßen. Gesprochen hatten wir seit dem Vorfall am Bach nicht mehr. Was sollte ich ihm auch sagen? Es tat mir nicht im Mindesten leid, dass ich ausgerastet war. Genauso wenig wie es ihm leidtat, dass er die Männer getötet hatte.
Mein Blick schweifte in die Ferne. Nichts als wogendes Gras. Hier und da mal ein einsames Gestrüpp. Keine Bäume. Am strahlendblauen Himmel war nicht einmal ein klitzekleines Wölkchen zu entdecken. Der Wind war scheinbar ebenfalls im Urlaub. Die Nachmittagshitze machte mich fertig. Ich wurde hier momentan lebendig gegrillt, während Takoda unbeeindruckt weiterritt. Er genoss es vermutlich, dass ich schwieg. Es ermöglichte ihm, sich voll und ganz auf die Umgebung und mögliche Gefahren zu konzentrieren. Etwas, das ich besser ebenfalls lernte. Die Hoffnung, dass alles nur ein Scherz war und wir nicht in der Zeit zurückgereist waren, hatte ich mittlerweile aufgegeben. Obwohl ich sie nach dem Mord noch kurz aufrechterhalten hatte. Trotzig hatte ich mir eingeredet, dass wir bald Zeichen moderner Zivilisation trafen, dass Takoda seinen blutigen Fehler einsähe. Tja, Fehlanzeige. Keine Gebäude, keine Straßen, keine Eisenbahnschienen, keine Kondensstreifen von Flugzeugen am Himmel und kein Stacheldraht auf der Prärie. Der singende Draht hatte auch noch nicht seinen Weg hierher gefunden. Gab es den Morsecode um diese Zeit überhaupt schon? Was würde ich jetzt um einen PC mit Internetanschluss geben. Tja, das war wohl Vergangenheit. Oder Zukunft, um genau zu sein.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Die Haut, die nicht von Kleidung bedeckt war, brannte unter der Sonneneinstrahlung. Kannten die Lakota irgendein Kraut gegen Sonnenbrand? Ich war so viel Sonne nicht gewöhnt. Wo war mein schönes entspanntes Gamer-Leben hin? Als Leseratte hatte ich ebenfalls das Haus selten verlassen.
Wie lange hatte ich vor, im Selbstmitleid zu versinken? Schnell verscheuchte ich die negativen Gedanken und konzentrierte mich wieder auf den Lakota, der ein kleines Stück vor mir ritt. Sein bronzefarbener Rücken glänzte in der Sonne. Ein untrügliches Zeichen, das Mister Perfekt ebenfalls schwitzte. Ha, wenigstens ein winziges Anzeichen von Schwäche. Obwohl, von Schwäche konnte man nicht reden. Schwitzen war bei dieser Hitze völlig normal. Ich starrte weiter auf seinen durchtrainierten Rücken. Komplett entspannt saß Takoda auf seinem Reitpferd, während mir mittlerweile alles wehtat. Als Wanderreiter war ich jedenfalls nicht geeignet. Wie machte der Lakota das nur? Selbst wenn er mit Pferden aufgewachsen war, die letzten Jahre hatte er bestimmt nicht ständig auf einem Pferderücken verbracht. Oder war es der Stoizismus, den man Indianern im Allgemeinen nachsagte. Obwohl, bei den Indianern wurde Stoizismus meist mit Emotionslosigkeit gleichgesetzt. Dabei hatten die Begründer bei der Theorie der Stoa etwas anderes im Kopf, dass meiner Meinung nach besser zu den Ureinwohnern Amerikas passte als die ihnen nachgesagte Gefühlskälte.
Angestrengt überlegte ich. Was hatte ich über die Stoiker gelesen?
Für den Stoiker als Individuum gilt es, seinen Platz in dieser Ordnung zu erkennen und auszufüllen, indem er durch die Einübung emotionaler Selbstbeherrschung sein Los zu akzeptieren lernt und mit Hilfe von Gelassenheit und Seelenruhe nach Weisheit strebt.
Ergo, man sorgte dafür, dass man seine Gefühle beherrschte und ausgeglichener wurde und die Angelegenheiten, auf die man keinen Einfluss hatte, akzeptierte.
Wie passend zu unserer momentanen Lage. Nur verspürte ich nicht den geringsten Wunsch, diese beschissene Situation klanglos hinzunehmen. Mein altes Ich hätte sich damit vermutlich schon längst abgefunden. Doch ich hatte mich seit der Ankunft in Rapid City verändert. Und wohl kaum zum Schlechten. Ich seufzte und schaute auf. Da bemerkte ich erst, dass Takoda sein Pferd gezügelt hatte. Er zeigte auf eine Baumgruppe in einiger Entfernung. Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arm, schweifte in die Ferne und wanderte dann zurück zu seinem sehnigen Arm, der mich so oft beschützend festgehalten hatte. Doch nun hatte derselbe Arm den Bogen gespannt, Pfeile abgeschossen und damit zwei Männer getötet. Trotz der Hitze fuhr mir ein kalter Schauer über den Rücken. Kaltblütiger Mord. Ausgeführt ohne Reue. Von jemandem, den ich zu kennen glaubte, den ich für seine sanfte und entspannte Art liebte.
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Ein Jahr in Rapid City
Historical FictionAnna und Steffi, zwei Freundinnen von Kindesbeinen an, wechseln für ein Jahr an eine amerikanische Highschool. Dort läuft allerdings nicht alles so glatt, wie sie es sich vorgestellt hatten. Dabei wird ihre Freundschaft mehr als einmal auf die Probe...