Kapitel 36 ✔️

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Die Sonne stand hoch am Horizont, als wir ein Indianerlager erreichten. Freudig kamen die Kinder auf uns zugestürmt, während die Frauen trällerten. Ich zuckte zusammen. Jede Faser meines Körpers war auf Flucht programmiert. Doch der fremde Krieger hielt mich fest an sich gedrückt. Ritt mit mir durch die Menge, die uns voller Neugierde betrachtete. Dann saß er vor einem Tipi ab und ich folgte seinem Beispiel. Er bedeutete mir, hineinzugehen. Ich gehorchte, denn eine innere Stimme flehte mich an, diesen fremden Menschen und ihren Blicken zu entfliehen. Es war zwar die gleiche Art von Neugierde, die mir schon bei den Lakota entgegengebracht worden war, doch fühlte sie sich hier bedrohlicher an. Wohl, weil ich hier niemanden kannte und damit auf die Barmherzigkeit des Fremden angewiesen war. Kurz ließ ich meinen Blick über seine Sachen streifen. Dann setzte ich mich in die Ecke, wo einige Frauensachen lagen. Wenn diese Indianer ähnlich tickten wie die Lakota, war es mir vermutlich untersagt, in die Nähe seiner Waffen zu kommen. Ich hatte mich oft darüber amüsiert, dass Menstruationsblut so gefährlich war, dass es Pfeile und Bögen unschädlich machte. Sehr zum Leidwesen meines Mannes, der mittlerweile wieder eisern an den Gepflogenheiten seines Stammes festhielt. Ich seufzte, sehnte mich nach ihm und seinem Geschimpfe zurück. Kurze Zeit später kam der Krieger mit zwei Schüsseln Essen herein.

„Na los, komm her. Ich beiße nicht", meinte er schmunzelnd auf Englisch. Seine dunklen Augen musterten mich vergnügt, registrierten, dass ich unschlüssig abwartete. War es weise, ihm zu trauen? Ich wusste es nicht.

„Ich tue dir nichts", seufzte er, schüttelte den Kopf über mein Verhalten. „Außerdem bin ich hier der Einzige, der dir helfen kann."

„Wobei willst du mir denn helfen?" Ich blieb an Ort und Stelle, traute mich nun aber, ihm fest in die Augen zu schauen. Er stellte die Schüsseln zur Seite, blieb aber ebenfalls sitzen.

„Ich weiß, dass du nicht hierhergehörst."

„No shit Sherlock." Hoppla, das war so jetzt nicht geplant. Ich wandte meinen Blick ab, doch er lachte nur leise.

„Ich sehe, dass es nicht nur deine Schönheit ist, die ihn dazu verleitet hat, dich zu seinem Stamm mitzunehmen. Doch dein Lakotamann wird dich nicht wiedersehen."

„Ach, und das hast du zu bestimmen?" Wieder behauptete jemand, zu wissen, was besser für mich war. Meine Fäuste ballten sich wie von selbst, bis die Knöchel weiß hervorstachen. Oh, wie ich es mittlerweile hasste, bevormundet zu werden. Ich knurrte leise vor mich hin, starrte dabei auf den Boden. Im nächsten Moment war der fremde Krieger bei mir. Er nahm sanft mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und zwang mich so, ihn anzusehen. Obwohl er mir so nah war und ich vermutlich in Panik hätte ausbrechen müssen, behielt ich die Ruhe. Lieferte mir stattdessen ein Blickduell mit ihm. Wie hypnotisiert starrte ich in seine Augen. Weder Hass noch irgendeine Aggression lagen darin. Eher Mitgefühl und Besorgnis. Und ganz tief unten war noch etwas anderes. Trauer. Ich blinzelte, schaute weg. Es überraschte mich zu sehr, dass er mir einen Einblick in seine Gefühlswelt offenbarte. So untypisch für einen Indianer.

„Wie ich bereits sagte, du gehörst nicht in diese Welt." Er stand wieder auf und kehrte zu seinem vorherigen Platz zurück. „Und jetzt isst du was." Er hielt mir die Essensschüssel hin. Widerstrebend setzte ich mich neben ihn und nahm sie ihm ab. Schweigend aßen wir.

Nachdem ich fertig war, stellte ich die Schüssel zur Seite und schaute den Indianer neben mir fragend an. Er schmunzelte.

„Wird wohl Zeit, dass wir zwanzig Fragen spielen."

Mir blieb der Mund offen stehen. Wie bitte? Was sollte das denn jetzt? Er tat, als ob er meine Verwirrung nicht bemerkte.

„Wie heißt du?" Auffordernd sah er mich an.

Ein Jahr in Rapid CityWo Geschichten leben. Entdecke jetzt