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„Flieg! Komm schon. Flieg!"
Bilder, wie Jungkook den bunten Drachen wieder und wieder in die Lüfte warf und ungeduldig an seiner Schnur riss, schossen ihm durch den Kopf.
Die Sonnenblumen ragten so hoch über seinen kleinen Kopf hinweg, dass Minsa ihn im glühenden Feld aus gelben Blüten kaum gefunden hatte. Lachend war sie ihm nach gelaufen, ständig den bunten Drachen über den Sonnenblumen im Blick, ehe sie aufgeholt und ihren kleinen Bruder mit Leichtigkeit auf die Schultern genommen hatte.
Die Art und Weise, wie ihre Ausstrahlung die Schönheit der Blumen beinahe vereitelte, als sie mit Jungkook auf den Schultern los lief und der Drachen schließlich zu fliegen begann, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Der Blütenstaub, angestrahlt von der tiefstehenden Herbstsonne war ihm so präsent vor Augen, als wäre die Erinnerung nur wenige Stunden alt, dabei lagen Jahre zwischen dem herbstlichen Nachmittag mit seiner Schwester und heute.

Keuchend blieb Jungkook stehen und stemmte sich die Fäuste in die Seiten. Trocken würgte er im Anflug bitterer Übelkeit, doch sein Magen war ohnehin schon leer.

Er erinnerte sich daran, wie Minsa ihn mit ihrer mentalen Stärke beeindruckt hatte. Stets war sie sein großes Vorbild gewesen.
Wie eine Löwin hatte sie ihn als Kind vor Wespen und der viel befahrenen Straße beschützt. Später dann vor Kindern, die schlecht über ihn sprachen, oder dem Jungen, welcher ihm das Herz brach, als er 13 Jahre alt war.
Sie hatte ihn einige, wenige Male von Partys abgeholt auf die er nie so richtig hin gehört hatte und sie hatte ihn dabei nie verraten. Nächte lang hatte sie ihn gehalten, wenn Jungkook von Albträumen geplagt, keinen Schlaf fand. Nur einige der unzähligen Gefallen, die Minsa ihm gemacht hatte, während sie sich auch sonst um Haus, Geld und Essen kümmern musste.

Jungkooks Schritte hallten wie deplatzierter Beifall von den feuchten Hauswänden der engen Gassen wieder, durch die er lief. Entsetzlich brannten seine Knie von den vielen Schnittwunden und seine Hände spürte er bereits gar nicht mehr. Erst war es nur ein Kribbeln gewesen, welches sich über seine Fingerspitzen ausgebreitet hatte, doch nun gehorchte sein tauber Körper wie von selbst dem Drang, ganz weit weg zu laufen. Am liebsten wollte er alles hinter sich lassen und sich in Luft auflösen, so wie immer, wenn ihm schmerzlich bewusst wurde, dass das Leben nur Rückschläge und Trauer für ihn bereit hielt.
Das Atmen fiel Jungkook zunehmend schwerer, während er das einzige Ziel ansteuerte, was er außer seinem eigenen Zuhause in Seoul kannte. Die Erinnerungen prasselten dabei derart qualvoll auf ihn ein, dass er drohte den Verstand zu verlieren.

Minsa hatte ihm beigebracht, wie man Apfelkuchen backte. Wie man lernte zu sich selbst zu stehen, aber viel wichtiger, sie hatte ihm beigebracht, wie man tanzte.
Egal ob er gestürzt, oder frustriert aus dem Trainingsraum gestürmt war, sie hatte ihn unaufhörlich dazu ermutigt, nicht auf zu geben und immer weiter zu kämpfen.
Zu kämpfen für das, was er wirklich wollte. Genauso, wie Jungkook es einst gewesen war, der seiner Schwester versprochen hatte, für sie und ihre Gesundheit zu kämpfen. Nur deshalb hatte er sie verlassen und war nach Seoul, in die graue Millionenmetropole gezogen. Nur deshalb hatte er bei jedem Wetter auf den Straßen musiziert und schließlich das Probearbeiten bei Vanity Entertainment ergattert.
Es war immer sie allein gewesen, welche die Grundlage seiner Motivation bildete und für wen er hart gearbeitet hatte. Doch nun sollte all die Mühe, ihrer beiderseits umsonst gewesen sein? Einzig, weil ihr Körper ein Spenderorgan nicht annehmen konnte, was eigens dazu da war, ihr Leben zu retten?
Ob es ein hilfloses Lachen, oder doch ein Schluchzen war, welches über Jungkooks Lippen drang, konnte er nicht differenzieren und prinzipiell war es ihm auch egal. Lachen und Weinen lagen in seinem Leben ohnehin gefährlich nah beieinander.
Gefangen im dunklen, undurchdringbaren Nebel der Schuld und Trauer um den Menschen, der für ihn einst der Grund war, überhaupt noch am Leben zu sein.
„H-hilf mir."
Selbst hören konnte Jungkook sich nicht mehr, als er kraftlos in die Gegensprechanlage wimmerte. Mit zitternden Beinen hatte er sein Ziel gerade so erreicht, doch Kraft für die Stufen bis in die Wohnung seines besten Freundes hatte er nicht mehr.
Wie in dichte, dicke Watte gepackt fühlte er sich und doch drang Namjoons vertrauter Eigengeruch tröstend in sein Bewusstsein.
Befreundet waren sie bereits eine lange Weile und Namjoon war stets der einzige gewesen, dem Jungkook nicht egal gewesen war. Unter Millionen von Menschen war Namjoon auf ihn aufmerksam geworden und hatte sich ihm angenommen, obwohl er stets der beliebtere von ihnen beiden gewesen war.
Die groß gewachsene, kräftige Statur, das sonnige Gemüt und die strahlenden Grübchen, verliehen Namjoon das einnehmende Wesen, welches Jungkook sich stets gewünscht hatte.
Mit seinem besten Freund Zeit zu verbringen, war seine einzige Ablenkung vom tristen Alltag gewesen, bevor Taehyung in sein Leben getreten war.
Namjoon hatte ihn nie für seine Homosexualität belächelt oder verurteilt.

So waren es die starken, warmen Arme seines besten Freundes, die sich unter seinen tauben Köper schoben und ihn an seine Brust drückten.
„Hey, beruhige dich. Ich bin hier, okay?"
„Oh Gott, was ist mit ihm?"
„Keine Ahnung. Gib uns nen Moment, bitte."
An Namjoons besorgter Stimme erkannte Jungkook, dass er den jungen Koreaner aus dem Schlaf gerissen haben musste. Rau und tief klang sie, während Namjoon einige Worte mit deiner Freundin zu wechseln schien.
Dumpf lauschte er dem Schließen einer Tür und rauschendem Wasser, ehe er hingesetzt wurde.
An den kalten Fließen unter seinen Handflächen und im Rücken erkannte er, dass er sich wohl im Badezimmer befand, doch der brennende Schmerz an seinen Knien, hielt ihn davon ab, sich weiter über seine Umgebung bewusst zu werden.
„Scheiße, sorry. Ich weiß, dass brennt, aber du blutest ziemlich stark und ich muss das ausspülen."
„J-joon..."
„Was hat er dir angetan, Kook? Was hat er mit dir gemacht?"
Die Fragen verwirrten Jungkook und irritiert kämpfte er mit der drohenden Ohnmacht des Traumas und des Blutverlustes.
„Er hat nicht..."

Mit der Dunkelheit der Ohnmacht kam der Duft von Schwefel nach ausgeblasenen Geburtstagskerzen.
„Ich wünsche mir, dass du für immer meine Schwester bleibst!"
Das hatte Jungkook mit fünf Jahren, Zahnlücken- strahlend in die kleine Geburtstagsgesellschaft gerufen. Hinter vorgehaltener Hand hatte Minsa gekichert und ihm erklärt, dass man seine Wünsche nicht verraten dürfe, weil sie sonst nicht in Erfüllung gehen würden.
„Aber mach dir keine Sorgen, das ist nur ein alberner Aberglaube. Ich werde immer da sein."
Doch nun würde Minsa nicht immer da bleiben und Jungkook beschlich das vernichtende Gefühl, dass er selbst, durch seinen albernen Wunsch letztendlich Schuld an Minsas Schicksaal war.
Jungkook wünschte sich im Stillen, dass er niemals geboren worden wäre, als die Ohnmacht schließlich ihre schweren Schlingen von ihm löste und er aufwachte, obwohl er sich so sehr dagegen gesträubt hatte.
Der dichte Nebel in seinem Kopf lichtete sich und noch während Jungkook kraftlos die Augen geschlossen hielt, spitzte er irritiert die Ohren.
Eine Unterhaltung, ganz in seiner Nähe drang gedämpft zu ihm, als würden die Stimmen besonders sorgsam darauf achten, nicht zu laut zu sprechen.
„Sie müssen mit ihm nach Japan fliegen. Wenn Sie es nicht tun, mache ich es. Minsa braucht ihn jetzt und umgekehrt."
„Denkst du das weiß ich nicht? Warum glaubst du, dass ich hier bin, huh? Sicher nicht um mir von dir eine reinhauen zu lassen."
„Ach kommen Sie schon, Sir."
„Tae?"
Jungkooks Stimme hörte sich seltsam fremd in seinem eigenen Kopf an, als er nach dem unverkennbaren Besitzer der tiefen Stimme fragte. Der Konversation zwischen seinem besten und seinem festen Freund konnte er nicht folgen. Vielmehr irritierte es ihn sehr, dass Taehyung bei ihm war, obwohl er sich auch ihm gegenüber so unfair benommen hatte.
„Was machst du denn h-", weiter kam Jungkook nicht.
Verwirrt rieb er sich die Augen und setzte sich auf, konnte dem bizarren Bild aber kaum Glauben schenken, welches sich ihm bot.
Namjoon saß, in Jogginghose und deutlich zerknirscht auf dem alten Sofa, während Taehyung ihm, in schickem Hemd gegenüber saß. Ein Bein über das andere geschlagen und unfehlbar wie eh und je, wäre da nicht der riesige Bluterguss gewesen, welcher geschwollen um sein rechtes Auge quoll.
„Ach du Sch..."
„Jin!"
Eilig schob Taehyung die knisternde Packung, tiefgekühlten Kimchis über sein Auge und stand auf.
„Ich bin hier.", hauchte er atemlos und ging neben Jungkook auf die Knie.
„Das sehe ich aber... aber... was ist mit deinem Auge?"
Verständnislos schielte er zwischen Taehyung und Namjoon hin und her, während der Blick des ältesten im Raum, eindeutig vorwurfsvoll auf Namjoons Person haftete.
„Jetzt seht mich nicht so an, man. Ich dachte er hat dir wehgetan. Du hast so stark geblutet, Kook."
Dass der, ihm verliehene Spitzname, bei Taehyung nicht gerade auf Begeisterung traf erkannte Jungkook an der Verachtung in seinem Blick und seufzend rieb er sich mit beiden Händen über das Gesicht.
Wie zwei testosterongesteuerte Hähne, steckten die dominanten Männer vor seinen Augen ihr Revier ab und genervt atmete Jungkook aus.
Taehyung musste längst bemerkt haben, dass Namjoon der junge Mann gewesen war, den Jungkook fälschlicherweise als seinen festen Freund ausgegeben hatte, um seinen Chef eifersüchtig zu machen. Dass also nicht auch Namjoon ein blaues Auge davon getragen hatte, grenzte wahrhaftig an einem Wunder.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll.", flüsterte Jungkook, mehr zu sich selbst und verlor sich allmählich zurück in seiner Verzweiflung, ehe zwei warme Arme ihn davon abhielten.
Ehe er sich versah, ruhte sein Kopf beschützend an Taehyungs starker Burst und das kräftige Schlagen des Herzens beruhigte ihn binnen Sekunden.
„Zuerst kommst du mit zu mir und morgen... morgen fliegen wir nach Japan."

BLACK POISON [TaeKook] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt