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Die melancholischen Klänge des alten Klaviers, welche in den Morgenstunden durch das abrissreife Haus bis in sein Zimmer geschwebt waren und ihn sanft aufgeweckt hatten, verfolgen ihn wie Geister seiner Vergangenheit auf Schritt und Tritt.
Er hatte Minsa stets gerne dabei zugehört, wenn sie spielte. Ebenso gerne, wie er ihr dabei zugesehen hatte, wenn sie ihr langes Haar gebürstet, oder eines ihrer vielen Back- Rezepte ausprobiert hatte.
Der süße Geschmack von frischen Waffeln hatte noch oft auf seiner Zunge gehaftet, wenn sie dem Zähneputzen entgangen waren und in Höhlen aus Bettdecken, heimlich die Taschenlampe über Bücherseiten huschen ließen.
Aus irgendeinem Grund hatte Minsa häufig nach wildem Waldhonig geduftet.
Jungkook war der Creme, dem Duschgel oder der Lippenpflege nie auf den Grund gegangen, die seine Schwester benutzt hatte. Jetzt allerdings wünschte er sich ihr mit allen Mitteln näher zu sein, sich mit ihrem Duschgel zu duschen und sich noch einmal geborgen in ihrem Duft zu fühlen. Dem Duft, der von steriler Krankenhausluft und einer unheilbaren Krankheit vertrieben worden war.
Auf die Frage, wie ein Leben ohne Minsa überhaupt möglich sein konnte, wusste er keine Antwort, doch er teilte seine Gedanken mit niemandem.
Wie genau er die Nacht überstanden hatte, wie er sich geduscht und umgezogen hatte, oder wie er zum Flughafen gekommen war, konnte Jungkook nicht rekonstruieren.
Völlig abgeschnitten von allem, in tiefem Nebel realisierte er nur ab und zu einige, aufbauende Worte der Stimme, die sein Herz zuvor noch so mühelos hatte erreichen können.
Der kühle Hals einer Flasche fand regelmäßig den Weg an seine Lippen, flößte ihm wenigstens etwas Wasser ein. Alles Essbare, was Taehyung ihm aber vor den Mund hielt, lehnte Jungkook stumm ab.
Ihm war nicht nach Essen zumute. Eigentlich war ihm nicht einmal nach Leben zumute.

„Wie kann die Sonne es wagen zu scheinen, wenn meine Schwester stirbt? Wie kann jeder hier einfach weiter machen, obwohl sie stirbt?“
Beschwichtigend legte Taehyung beide Hände auf seine Schultern und zog ihn schließlich in eine feste Umarmung.
„Ich weiß es nicht, Jungkook. Aber es wird ihr nicht helfen, wenn dir die Ungerechtigkeit den Verstand raubt. Auch, wenn es alles von dir abverlangt, stark zu bleiben.“
Einige der nichtsahnenden Reisenden hatten sich fragend zu ihnen umgedreht, als Jungkook begonnen hatte zu schreien.
Tatsächlich war es allein sein starkes Gegenüber, welches verhinderte, dass er völlig den Verstand verlor. Dass er einfach aufgab und seiner Schwester folgte, wo auch immer ihre Reise hingehen würde.
Im Flugzeug angekommen lehnte Jungkook die Stirn gegen das kalte Fenster und beobachtete Eiskristalle, die sich langsam ihren Weg an den Scheiben empor bahnten, nur um wenig später unter wärmenden Sonnenstrahlen wieder zu schmelzen.
Alles war vergänglich, dass hatte er bereits an seinem ersten Arbeitstag bei Vanity Entertainment gelehrt bekommen. Das Bild und Taehyungs seltsames Machtspiel hatten ihm Realitäten aufgezeigt, die er erst in diesem Moment so richtig verstand. Hoch über den Wolken, weit weg von Soeul, seinem Zuhause und dem Vanity Tower, aber dennoch konfrontiert mit Vergänglichkeit, Tod und ihrem stärksten Widersacher… der Liebe.

--Pov Taehyung--

Immer wieder streckte Taehyung die Finger nach Jungkooks Rücken aus, den er ihm bereits seit einer halben Stunde Flug zugewandt hatte.
Im ständigen Zwiespalt mit sich selbst grübelte Taehyung was er noch tun könnte, um alles irgendwie besser zu machen, doch sein Resümee war ernüchternd. Wenn man starb, dann war man einfach nicht mehr da. Nie wieder. Da gab es nichts mehr, was man besser machen konnte.
Nachdenklich kramte Taehyung in seinem Jackett nach einem Taschentuch. Seine Nase lief und in einem kurzen Anflug von Panik fragte er sich, ob ihn nun doch eine der gefürchteten Erkältungen ereilt hatte, doch als er sich diskret die Nase putzte, war es frisches Blut, welches seinen Weg in das Taschentuch fand.
Irritiert runzelte Taehyung die Stirn und fing die nächsten, warmen Tropfen gerade rechtzeitig auf, bevor sie von seiner Oberlippe hätten tropfen können.
„Entschuldige mich kurz.“, murmelte er in sein blutiges Taschentuch und war sich dabei nicht einmal sicher, ob Jungkook ihn überhaupt verstanden hatte.
Möglichst unauffällig eilte er den engen Gang im Bauche des Flugzeuges entlang um die Board- Toilette zu erreichen und mit jedem Schritt schnürte sich seine Kehle ein wenig mehr zu.
Ob es am Schaukeln der Maschine, oder an seinem Kreislauf lag, weshalb ihm plötzlich unglaublich schwindelig wurde, wusste er nicht. Allerdings drehte sich alles dermaßen schnell um ihn, dass er erleichtert aufatmete, als die rettende Tür der Toilette hinter ihm ins Schloss fiel.
Mit dem hörbaren Einrasten der Verriegelung, brach aus ihm heraus, was er all die Zeit unter Verschluss gehalten hatte.
Keuchend übergab er sich in die Toilette und hielt sich mit kaltschweißigen Fingern irgendwo an den Plastikwänden fest.
Ein Schluchzen folgte trocken dem letzten Rest Mageninhalt und zitternd sackte Taehyung in die Hocke.
Der saure Geschmack in seinem Mund mischte sich mit metallischem Blut und obwohl ihm nach Weinen zumute war, tropfte nur der Schweiß über sein Gesicht, um irgendwo auf dem schmutzigen Fußboden zu verschwinden.
Noch nie hatte er sich so elendig und so hilflos gefühlt.
Jungkook dermaßen verzweifelt zu sehen brach ihm auf der Stelle das Herz, dabei hatte er so fest daran geglaubt, dass sein Geld ihm den größten Wunsch erfüllen können würde.
Nie hatte Taehyung etwas wirklich Gutes und Selbstloses getan. Nie hatte er etwas gegeben, doch als Jungkook in sein Leben getreten war, hatte es plötzlich Sinn gemacht zu helfen. Es hatte Sinn gemacht sich finanziell um die Gesundheit seiner geliebten Schwester zu kümmern und alles zu tun, damit der junge Mann sein Lächeln zurück finden können würde.
Doch trotz all der Telefonate mit der Klinik, all dem Geld und sogar der Einschaltung eines Anwaltes, war Minsa keine Chance des Überlebens gegönnt und Taehyung wusste, dass Jungkook am Ende an all der Einsamkeit zerbrechen würde.
Ihm war von Beginn an klar, dass nur Minsa ihn über die Trauer hinweg begleiten können würde, wenn Taehyungs Zeit endgültig gekommen war.
Von Beginn an hatte er Jungkook aufgezeigt, wie wenig Zeit sie gemeinsam haben würden. Ob der junge Mann seine Anspielungen verstanden hatte, wusste er allerding bis heute nicht.
Nun aber würde weder Minsa, noch er selbst ihn begleiten können und diese Gewissheit raubte ihm mehr als nur den Verstand.
Wahrhaftig hatte er in Jungkook den Menschen gefunden, der sein kurzes Leben lebenswert gemacht hatte und eben weil Taehyung so verliebt war, hatte er die Bindung mit ihm zu Beginn grundlegend vereitelt. Er hatte nie gewollt, dass Jungkook sich in ihn verliebte, nur um ihn am Ende ohnehin zu verlieren. Er wollte dem jungen Mann nicht noch mehr Schmerz bereiten, doch als er von seiner kranken Schwester erfahren hatte, gab ihm die Hoffnung, Minsa zu helfen das Gefühl, wirklich etwas Gutes für ihn tun zu können. Er war davon ausgegangen, dass Minsas Überleben seinen eigenen Tot schon irgendwie relativieren können würde.
Durch all die Erzählungen Jungkooks wusste er immerhin genau, was für ein großartiger Mensch sie war.
Taehyung war sich sicher, dass Minsa ihn in all seinen Wünschen unterstützen und auf ihn aufpassen würde, wenn er selbst nicht mehr da war.
Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit ihnen und so blieb Taehyung nichts anderes übrig, als seinem Freund dabei zuzusehen, wie er zerbrach.

„Sir, ist alles in Ordnung?“
Die besorgte Stimme einer Flugbegleiterin riss Taehyung aus den Gedanken und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch immer im Flugzeug war, obwohl sein Arzt ihm eigentlich strengstens verboten hatte zu fliegen.
„Es ist alles Bestens.“, antwortete er erstickt und rappelte sich mit zittrigen Beinen auf.

Es war Taehyung nicht neu gewesen, als sein Arzt ihm den Herzfehler bestätigt hatte, von dem sein Vater stets Gebrauch gemacht hatte wenn es darum ging, Taehyung abzuwerten.
Das Druckgefühl in seiner Brust und die regelmäßig auftretende Atemnot waren stets treue Begleiter seines Lebens gewesen, doch wie ernst es um ihn und sein Herz wirklich stand, machte ihm erst vor wenigen Jahren ein Arzt klar.
Dass Taehyung nie Mals eine langfristige Bindung zu einem Menschen eingehen können würde, weil man ihm höchstens noch drei Jahre gab, hatte ihm nach dem Arztgespräch den Boden unter den Füßen davon gerissen.
Jede, noch so kleine Infektion könnte für ihn das abrupte Ende bedeuten, das hatten die Fachmänner ihm klar gemacht.
In jenem Moment, als Taehyung die Option einer Zukunft genommen wurde, hatte sein emotionsloser Egoismus freies Spiel. Gefangen in Selbstmitleid, Selbsthass und Hoffnungslosigkeit, wartete Taehyung auf ein Spenderherz, doch seine seltene Blutgruppe machte die Suche schier ausweglos.
Den Wettlauf mit der Zeit hatte er dabei längst verloren.
Die prognostizierten drei Jahre waren vergangen und die Gewissheit, dass sein Herz in jedem Moment aufhören könnte zu schlagen, kratzte deutlich an seiner Substanz.
Eher weniger, weil er Angst davor hatte zu sterben, sondern schlicht weil er Jungkook unter allen Umständen in Sicherheit wissen wollte, bevor er bereit war zu gehen.

Gefasst wusch Taehyung sich das Gesicht, trocknete es mit Papiertüchern und strich sich sein Hemd glatt, als wäre nichts gewesen.
So tief es eben ging atmete er durch, spülte Blut und Erbrochenes den Abfluss hinunter und schob sich ein Kaugummi zwischen die Lippen.
Noch war er da um ihm zu zeigen, wie wertvoll, wie wundervoll Jungkook war.
Noch war er da um ihm Halt zu geben.
Noch war er da.

BLACK POISON [TaeKook] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt