1. Kapitel

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2015

Der Klassenraum war noch leer. Es war sehr früh. Feynsinn saß an seinem Lehrerpult und spielte mit dem Lesebändchen des grünen Klassenbuches. In seinem Aktenordner hatte er die Listen für die Klassen eingeheftet. Er ließ die neue Kreide zwischen Zeigefinger und Daumen nervös hin- und her wippen. Die beiden anderen Referendare hatten schon abgebrochen. „Guten Morgen Herr Feynsinn!" „Guten Morgen Fredo!" Er gewöhnte sich schnell an den Ausdruck „was geht ab Alter?" Beim ersten Mal hatte er noch disziplinierend eingegriffen. Aber schon nach einigen Tagen hatte er sich auf die Sprache seiner Schüler eingestellt. Sie wollten ihn nicht provozieren. „Alter, das ist doch nett gemeint. Also ich finde Sie voll korrekt. Dürfen wir einmal sehen?" Er fotografierte die Schüler einzeln oder in Kleingruppen. Sie hielten ihre Namensschilder wie Häftlinge vor ihre Brust. Manche lachten ausgelassen und zogen Grimassen. Einige schauten ernst und betreten. Sobald er ihre Namen kannte, löschte er die Fotos. Als die ersten eintrudelten, grüßte er jeden einzelnen mit Namen. Am Ende gab es jedoch immer einige, deren Namen er sich nicht merken konnte. Das war ihm unangenehm. Wie konnte er Menschen einfach nicht sehen? Normalerweise waren das die Unauffälligen, Stillen. Aber auch ein Leo war ihm durch die Lappen gegangen. Mit ihm würde er in diesem Jahr noch viel zu tun haben.

Er war kein Held, sondern eher ein stiller Beobachter. Er konnte gut zuhören und dachte über Vieles nach. Das war sicherlich auch ein Grund dafür gewesen, dass die meisten es vorzogen, ihn mit seinem Nachnamen Feynsinn anzusprechen. Die ersten Wochen in der Schule zuckte er immer zusammen, weil alle in der Schule ein „Herr" vor einen Namen setzten. Am Nachmittag ging er die Fotos durch. Er war von der Schulleitung gebeten worden, in der Mittelstufe ein Geschichtsprojekt auf die Beine zu stellen. Die 8. Klasse war sehr anstrengend. Er musste in jeder Stunde kämpfen. Da saßen die Chaoten Negin, Gramos, Désirée, Jane und Burcu vor ihm. Jede Woche wechselten zusätzlich einige Schüler von den anderen Arbeitsgemeinschaften in sein Geschichtsprojekt. Nicht aus Überzeugung. Nein, es hatte sich einfach schnell herumgesprochen, dass bei ihm im Unterricht Chaos und Anarchie herrschte. Das zog sie an. Irgendwann saßen 38 Schüler in dem viel zu kleinen Raum. Sie saßen auf den Fensterbänken und hinten auf den Tischen. Das war kein Unterricht mehr, sondern Party. Er beschloss, in den Raum seiner eigenen Klasse umzuziehen, also in der er Klassenlehrer war, damit es keine Diskussionen mehr gab, wer nach dem Unterricht aufräumen und fegen musste. Die anderen Lehrer hatten sich schon beschwert, weil der Raum nach dem Unterricht verwüstet war. Überall standen zusätzliche Tische und Stühle aus anderen Räumen herum. Auf dem Boden lagen Papier und ein zerdrückter Yoghurtbecher mit weißen Spuren auf dem braunen Teppichboden.

Wie sollte er die Gruppe für Geschichte begeistern? Er beschloss, mit den Schülern über die Edelweißpiraten zu reden. Diese Kölner Arbeiterkinder wollten während der Zeit der Nationalsozialisten auf keinen Fall zur Hitlerjugend gehören. Sie waren so alt wie seine Schüler und genauso renitent. Es funktionierte. Er setzte sich hinten zwischen die Schüler, während vorne einer der Schüler saß und aus dem Buch von Fritz Theil vorlas. Die anderen schwiegen und hörten zum ersten Mal im Unterricht aufmerksam zu. Selbst die größten Störenfriede schienen sich mit den Edelweißpiraten zu identifizieren. „Die haben auf denselben Plätzen abgehangen wie wir", sagte Gramos. Der Schüler war wegen einer Prügelei zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen gewesen.

Als Feynsinn das Wort „Opfer" zum ersten Mal im Unterricht gebrauchte - es stand zufällig in einem der Lehrbuchtexte - konnte die Klasse nicht mehr aufhören zu lachen. Er guckte an sich herunter. Hatte er irgendwo einen peinlichen Flecken? Oder noch viel schlimmer, stand der Reißverschluss offen? Eine Schülerin half ihm auf die Sprünge: „Ach Herr Feynsinn, das Wort Opfer ist ein Schimpfwort für uns, eine richtig heftige Beleidigung." Sollte Feynsinn jetzt einen kleinen Vortrag zum Begriff Holocaust einbauen und darauf hinweisen, dass die Franzosen ihn bereits seit langem durch Shoa ersetzt haben? Er schrieb spontan die beiden Wörter an die Tafel und bat die Schüler, die beiden Begriffe auf ihren Handys, die sie sowieso immer griffbereit hatten, zu recherchieren. In der nächsten Wochen teilte er die Schüler in Gruppen ein. Sie sollten nachmittags in den Blücherpark gehen, wo die Edelweißpiraten ihren Treffpunkt hatten. Außerdem schlug er ihnen vor, die Straßenschilder und Häuser zu fotografieren, wo die Edelweißpiraten in Köln gelebt hatten. Freiwillig waren sie an den Nachmittagen unterwegs in der Kölner Innenstadt. Sie suchten die Orte auf, wo sich die Edelweißpiraten trafen, um neue Aktionen gegen die Nazis zu planen. Stolz zeigten die Schüler im Unterricht die Fotos auf ihren Handys und verglichen sie mit den alten Aufnahmen der Kölner Orte im Buch. Andere hatten mit einer Zeitzeugin telefoniert. Sie hielten Referate über Ehrenfeld und polnische Zwangsarbeiter. Désirée brachte ihre Gitarre mit und sang ihren Mitschülern zwei Lieder vor, welche die Edelweißpiraten auf ihren Ausflügen in der Umgebung gesungen hatten. Feynsinn genoss die veränderte Stimmung in seinem Chaoten-Kurs und war einen kurzen Moment glücklich.

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now