35. Kapitel

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2016

„Warum bist du hier, Hope?" Feynsinn setzte sich auf. „Hattest du Sehnsucht nach mir?" Sie neigte sich zu ihm und küsste ihm auf die Stirn. „You are my first love... und die vergisst man nicht." Sie goss ein wenig Wein nach und nippte am Glas.

Feynsinn war seit Wochen damit beschäftigt, neben der Schule auch noch das Familienhaus aufzulösen, in dem seine Mutter in den letzten Jahren alleine gelebt hatte. Er war in der Waldsiedlung in Leverkusen-Schlebusch aufgewachsen und hatte die kleinen gemütlichen Häuser immer gemocht, bis er herausfand, dass die Nazis sie bauen ließen. Verführung durch Raum: Die Nationalsozialisten hatten schnell erkannt, dass Fachwerk und kleine Häuser mit dem Satteldachtypus das Volk mehr anziehen würde als helle kubistische Bauten, wie sie im faschistischen Italien in der Zeit üblich waren.

Seine Schwester mit Schwager und sein Vater waren nur kurz vorbeigekommen, um sich einige wertvolle Möbelstücke und Gemälde zu sichern. Die Hauptlast der Wohnungsauflösung blieb an Feynsinn hängen. Er googelte nach einem Unternehmen, um die komplette Entrümpelung des Hauses zu übergeben, aber er brachte es dann nicht übers Herz. Uwe half ihm, noch brauchbare Möbel beim Autonomen Zentrum abzugeben. Am Vormittag waren Mitarbeiter der Kirche vorbeigekommen und hatten Kleidungsstücke mitgenommen. Das monatelange Ordnen im Haus seiner Mutter half mir, Abstand zu gewinnen. Er war dabei, alte Koffer ins Wohnzimmer zu schleppen, als es unerwartet an der Haustür klingelte. Er reagierte erst nicht, weil er vermutete, dass es wieder die anstrengende Frau Heinemann von gegenüber war. Er öffnete den ersten Koffer. Ein Stapel mit handschriftlichen Notizen. Es klingelte wieder. „Feynsinn?" Zu seiner großen Überraschung stand vor der Tür Hope und ihm fiel ein, dass ihn seine Schwester davor gewarnt hatte, dass Hope ihn besuchen wollte. Feynsinn hätte Hope auf keinen Fall wiedererkannt. Wann haben wir uns zum letzten Mal gesehen?" „Vor 15 Jahren?" „Ja, du hattest gerade dein Stipendium, um weiter in Polen zu forschen."

Sie setzten sich auf den Teppichboden im Wohnzimmer und Feynsinn holte aus dem Keller eine Flasche Wein. Er zeigte ihr die vielen Seiten, die jemand sorgfältig mit Notizen beschrieben hatte. Hope legte ihm einen vergilbten Artikel hin mit einem kleinen Mädchen mit erweiterten Pupillen. „Du solltest aus den Notizen deinen Roman machen." „Das Mädchen war meine Mutter, die 1941 in Leverkusen geboren wurde.", sagte Feynsinn und ihm war kurz merkwürdig dabei zumute.

„Wir haben mit deinem Großvater über seine Entnazifizierung gesprochen." Mit einem unangenehmen Gefühl erinnerte er sich daran, wie ihm seine Oma als Kind davon erzählte, dass zwei Deutsche ein Kind festhielten und eine dritte die tödliche Spritze setzte. Feynsinn und seine Mutter kamen gerade vom Tierarzt. Sein Hund Charlie musste eingeschläfert werden. „Das Leben hat auch Schattenseiten. Es war ein Akt des Erbarmens, weil das Kind sowieso sterben würde und es so von seinen Schmerzen befreit wurde.", hatte seine Großmutter Marlene gesagt. Wie eine Äußerung eines vertrauten Menschen Jahrzehnte noch erinnert werden und dann auch noch einmal ganz anders eingeordnet werden kann. Feynsinn gelang es nicht, sich wirklich emotional mit dem Sachverhalt auseinanderzusetzen. Er spürte nur so etwas wie einen „Shift" in seinem kognitiven System. Feynsinn hatte damals nicht weiter nachgefragt und er und seine Mutter waren nach Hause gefahren. Charlies Leiche hatten sie bei seiner Großmutter gelassen.

Feynsinn saß mit Hope im Auto als sie die Nachrichten im Radio hörten. Auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin war ein Lkw in eine Menschenmenge gerast. Er wurde so wütend, dass er mit der Handfläche auf die Ablage des Autos schlug. Hope erstarrte, schaltete das Radio aus und hielt an der roten Ampel. „Zwölf Tote und 50 Verletzte." Als es grün wurde, fuhr Hope weiter. „Ronald ist tot. Er wollte sich mit Kollegen auf dem Weihnachtsmarkt treffen."

In den nächsten Tagen liefen die Ermittlungen zum Terroranschlag in Berlin auf Hochtouren. Tage später wurde der tunesische Attentäter in Italien gefasst und erschossen. Seit der Wanderreise hatte Feynsinn Ronald kaum gesehen. Sein Cousin hatte sich verändert. Feynsinn erinnerte sich noch gut daran, wie ihn Ronalds Unkenrufe befremdet hatten. Er kam einmal von einem Treffen mit Uwes beiden syrischen Freunden, um sie abends noch auf ein Kölsch mit Ronald zu treffen. Dieser hatte ihn angemotzt: „Bist du denn völlig naiv?" Feynsinn war müde vom langen Tag. Hatte Ronalds neueste Freundin mit ihm Schluss gemacht? „Was ist los mit dir? Warum bist du so negativ?" „Weil ich es nicht mehr hören kann: Welcome Refugees. Eine Million vorwiegend junger muslimischer Männer wird unser Land zerstören. Wir werden Angriffe auf Schwule haben." Feynsinn trank aus der Flasche und setzte sein typisches Gesicht auf, wenn er schwierige Gespräche mit Schülern oder Eltern führen musste. „Also, du kannst es nicht mehr hören...", wiederholte er Ronalds letzten Satz. In der Lehrerausbildung hatte er gelernt, dass es wichtig war, dem anderen viel Raum zu geben und manchmal einfach nur Satzbrocken mechanisch zu wiederholen, um den Redefluss des anderen nicht durch eigene Vorstellungen zu unterbrechen. Es fiel Feynsinn schwer, sich an diese Kommunikationsregeln zu halten und er hatte den Eindruck, seinen Cousin zu manipulieren. Feynsinn wiederholte noch einmal „also, du kannst es nicht mehr hören" und befürchtete, dass Ronald sauer auf ihn werden würde. Dieser setzte aber einfach nur seinen Monolog fort: „Mädchen fühlen sich jetzt schon nicht mehr sicher im Schwimmbad oder alleine auf der Straße. Das ist doch alles ein grenzenloser Wahnsinn. Wir stehen völlig isoliert in Europa. Die Juden, die nach Deutschland gekommen sind, fühlen sich nicht mehr sicher. Diese ganze Migration ist doch ein absoluter Wahnsinn." „Also du findest, dass die ganze Migration ein absoluter Wahnsinn ist", sagte Feynsinn und musste an die grünen Papageien denken. „Wir helfen Menschen aus Kriegsgebieten und das ist gut und menschlich", sagte Ronald. „Ich spreche nicht von der syrischen schwangeren Frau, die Asyl in Deutschland beantragen will. Aber schaue dir die Geschichte von Christen und Muslimen einmal genauer an. Lies den Koran. Betrachte die Situation in den Ländern, wo Muslime die Mehrheit einnehmen. Ich habe mich auch nicht damit beschäftigen wollen und mir gruselt es. Ich habe Angst vor Saudi-Arabien, den Iran, aber auch der vor Türkei". „Dir gruselt es vor Saudi-Arabien", wiederholte Feynsinn und sagte dann spontan: „Du kannst doch nicht alle Muslime unter Generalverdacht stellen" und war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob es seine eigene Meinung war oder ob er einfach eine Phrase aus dem Fernsehen übernommen hatte.

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now