17. Kapitel

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2015

Ohne Ankündigung hagelte es dann am Rosenmontag. Während sich die als Chirurgen, Prinzessin oder Priester verkleidete Karnevalisten schützend an den Häuserfronten unterstellten, blieb Feynsinn ungeschützt neben seinem kleinen Weihnachtsbaum auf seinem Balkon stehen. Er war erstaunt über den plötzlich bedrohlich grauen Himmel. Der Hagel - und es waren unglaublich dicke, harte Kugeln – fiel mit Gewalt vom Himmel. Die Hagelkörner, die schon auf der Straße lagen, waren vom Aufschlag verformt. Weiterer Hagel kam mit einem laut polterndes Krachen vom Himmel und schlug rhythmisch auf die dunkelgrauen Dachziegel und kullerte nach dem Aufschlag hinunter in die Regenrinne. Immer mehr prasselte hinunter. Es gelang ihm nicht, die Hagelkörner mit ausgestreckter Hand einzufangen. Zu schnell hüpften sie wie geschrumpfte, knallharte Tennisbälle wieder von seiner Handfläche. Sie waren brutal und schnell wie Schüsse.

Die Straße füllte sich mit weißen Kugeln. Apokalypse. Die ganze Wut der Natur auf den Menschen. Auf der Straße standen Autos mit zertrümmerten Windschutzscheiben. Der kleine Tannenbaum neben ihm hatte viel zu früh seine jungen Triebe ausgetrieben. Die empfindsamen Spitzen lagen zerfetzt vom Hagel auf dem Boden. Es ist wie in jedem Krieg: Die Unschuldigen leiden in einem Krieg der Großmächte am meisten.

Kurz nach Karneval sah Feynsinn die grünen Papageien dann zum ersten Mal. Es war einige Tage nach dem heftigen Hagelsturm. Er hatte wieder Ärger in der Schule. Vor allem mit Leo. Erst nur mit Leo und dann auch noch mit dessen Eltern, die geschieden waren. Aber wenn es um Leo ging, kamen sie als kampfbereites Duo. Leo hatte sich auf seine blonden Haare grüne Karnevalsfarbe gesprayt und hatte die Farbdose auch während des Unterrichtes immer zum nächsten Einsatz griffbereit. Feynsinn musste sie ihm dann im Unterricht abnehmen, weil Leo Viktoria von hinten ein grünes Hakenkreuz auf den Rücken gesprayt hatte. Erst kam ein böser Elternbrief. Dann kamen die Eltern persönlich, weil Feynsinn nicht bereit gewesen war, Leo sein „Eigentum" zurückzugeben.

Waren es die Tauben, die wie immer auf der Antenne vom Nachbardach saßen? Es kam ihm so vor, als seien die grauen Tauben grün eingefärbt worden. Er schaute genauer hin und sah, dass es grüne Papageien vor einem grau verhangenen Himmel waren. Sie schienen ihn genauso zu beobachten wie er sie. Feynsinn war sich sicher, dass der Hagel und das plötzliche Erscheinen der grünen Papageien kein Zufall war. Sein Kater schlief und schien keine Notiz von den grünen Vögel zu nehmen, während er sonst schon bei einem kleinen Spatz auf Krawall gebürstet war.

Feynsinn schlief wieder einmal sehr schlecht und wachte gegen drei Uhr auf und kam nicht wieder in den Schlaf. Am nächsten Morgen war er gerädert und hätte fast die Klassenarbeit vergessen. Leo quietschte mit seinen Turnschuhen auf dem grauen Plastikboden. Caro zwirbelte eine Haarsträhne und beschwerte sich: „Die Arbeit ist viel zu schwer." Eine andere Schülerin fragte in die Klasse hinein nach den richtigen Lösungen für den Lückentext und es entstand allgemeiner Tumult. „Was heißt Buch auf Französisch?" „Wenn Sie jetzt nicht sofort für Ruhe sorgen, gehen wir zur Schulleitung." Leonie und Hannah hatten sich auch schon über seinen schlechten Unterricht beschwert. Nach der letzten Klassenarbeit hatten die Eltern beantragt, die Arbeit nicht werten zu lassen, weil es zu laut gewesen war. Feynsinn sorgte für Ruhe und schlug einen autoritären Ton an. Leo nahm den schwarzen Verschluss von seinem Edding und klemmte ihn zwischen Nase und Lippe, stand auf und riss den Arm hoch. „Heil Hitler!"

Feynsinn hasste sich für seine nachlässige Art und für seinen miesen Unterrichtsstil. Griff er streng durch, hatte er den Eindruck, in der Kleidung seines Vaters herumzulaufen. Er hörte sich mit der Stimme seines Vaters reden. Er schien sogar den Geruch seines Vaters auszudünsten. In der Pause ging er auf die Lehrertoilette und musste sich übergeben. Feynsinn wusch sich mit kaltem Wasser den Kopf. Am nächsten Tag ließ er Leo aus dem Kunstunterricht holen. Leo sah in seinem weißen Arbeitskittel aus wie ein kleiner Chefarzt. Er war sichtlich nervös, was Feynsinn überraschte, weil er ihn im Klassenzimmer immer nur als selbstbewusst wahrgenommen hatte. Feynsinn fragte Leo, wie er auf den Vergleich zwischen Hitler und ihm gekommen sei. Leo sah seinen Lehrer erstaunt an: „Die Idee dazu hatte ich schon den ganzen Tag. Die ganze Schule ist doch wie die Nazis. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind anders als die übrigen Lehrer und ich finde Sie okay."

Feynsinn wollte das Gespräch schon beenden, als Leo ihne ohne Vorwarnung fragte: „Sie hätten doch Hitler als Baby umgebracht?" Feynsinn griff nach seinem Asthma-Spray. Leo ließ nicht locker. „Finden Sie, dass Attentäter Mörder sind?", hakte Leo nach. Feynsinn fing an zu schwitzen. Sie diskutierten bis zum Stundenende. „Ach und behalten Sie die grüne Spraydose. Meine Eltern finden strenge Lehrer sexy." Feynsinn ging übermüdet nach Hause. Bevor er sich hinlegte, sprayte er zum ersten Mal in seinem Leben an eine Wand. Er nahm die Wand über seinem Schreibtisch und schrieb: „Fuck you!"

***

„Leo benimmt sich trotz mehrfacher Ermahnung total daneben", hatte Feynsinns blonde Kollegin im Klassenbuch notiert. Er merkte, wie witzig er Leo fand. „Leo kommt bewusst zu spät in den Deutschunterricht vom Pausenhof mit der Aussage: ,Es gibt Wichtigeres als Stadtlyrik'". Darunter hatte sie ihre Paraphe gesetzt.

Die Schüler saßen an ihren Aufgaben, er blickte aus dem Fenster. Wieder der Traum vom alten Gerümpel in seiner Wohnung. Er bekam kaum Luft. Alte Holzmöbel und muffige Kleidungsstücke. Militärauszeichnungen und Schwarzweißfotos. Die alte Porzellantasse mit kunstvoll aufgemalten Blumen. Als er am Samstagmorgen aufwachte, beschloss er, seine Wohnung zu entrümpeln. „Ich sehe da eindeutig einen Zusammenhang zwischen ihrem Asthma und diesem Traum", sagte sein Heilpraktiker. Kleidungsstücke, alte Bücher, den Fernseher, die CDs und die Hockey-Ausrüstung aus seiner Kindheit verkaufte oder verschenkte er. Vieles warf er dann auch weg, weil es beschädigt war. Seinen kleinen selbst gebauten Schrank stellte er auf die Straße und kaum drehte er sich um, war er auch schon verschwunden. Der alte Krempel, der gar nichts mehr mit ihm zu tun hatte. Den geerbten Küchenschrank, den er weiß angestrichen hatte, holte sein Freund Uwe ab. Er kam mit einem Kasten Kölsch vorbei und blieb bis spät in die Nacht. Uwe war seit der Grundschule sein bester Freund. Während Feynsinn aufs Gymnasium wechselte, hatte Uwe nur eine Empfehlung für die Hauptschule. Seine Eltern hatten andere Sorgen. Uwe verließ die Hauptschule ohne Abschluss, weil er oft geschwänzt hatte, kam aber trotz aller schlechten Prognosen erfolgreich durch sein. Was auch immer Erfolg bedeutet.

Sein Kater miaute. Er nahm den Topf mit den Resten von angetrocknetem Katzenfutter weg und stellte dem hungrigen Tier die neue Schüssel hin. Sein Kater hieß Helmut, weil Feynsinn der alte rauchenden Helmut Schmidt und auch seine Frau Loki faszinierte. Auf YouTube gab es von ihm kein Video, das sich Feynsinn nicht schon angeguckt hatte. Helmut legte sich zu ihm aufs Sofa. Er hatte seine geringelten Strümpfe an und kraulte seinen Kater den Kopf und unter seinem Kinn liebevoll. Feynsinn hatte den komischen Kater aus dem Studentenwohnheim mitgenommen. Eine spanische Austauschstudentin hatte das Tier verletzt auf der Straße gefunden. 

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now