28. Kapitel

2 0 0
                                    

2015

„Hello, welcome to Germany!", sagte der Tierarzt, als er gemeinsam mit dem Albaner zum ersten Mal vorbei kam. Der Albaner sprach schon sehr gut Deutsch und lernte sich schnell in den Praxisalltag einzufügen. Feynsinn betreute drei Albaner, die zwischen 22 und 26 Jahren alt waren. Der Älteste war Tierarzt. Feynsinn organisierte ihm ein Praktikum beim Vater eines Freundes, der eine Tierarztpraxis hatte. Ein klein wenig verstimmt war Feynsinn dann schon, als der Vater ihm einige Tage später, als er noch einmal vorbei kam, zum Abschied auf die Schulter klopfte und sagte: „Das nenne ich die perfekte Entwicklungshilfe. Die jungen Männer kommen auf eigene Kosten nach Deutschland, lernen fleißig und übernehmen unentgeltlich Aufgaben in meiner Praxis und dann werden sie wieder abgeschoben". Feynsinn blieb wie angewurzelt in der Praxis stehen. „Ich verstehe nicht so recht, wovon Sie sprechen? Ich war fest davon ausgegangen, dass der Albaner mit dem Praktikum einen ersten Schritt in die deutsche Gesellschaft macht?" „Ich sehe die ganze Situation pragmatischer: Die Albaner werden kein Asyl in Deutschland bekommen. Dennoch finde ich dein Engagement und das der Flüchtlinge richtig. Der lernt hier ganz viel und wir werden in Kontakt bleiben. Mit seine hier neu erworbenen Kompetenzen wird er Albanien voranbringen. Keine Angst, ich werde ihn nicht als Arbeitskraft ausnutzen und dann vergessen. Wir haben uns schon zusammengesetzt und ein Konzept entwickelt. Außerdem habe ich Kollegen eingeladen und wir werden einen Transporter mit nützlichen Praxisgeräten und Medizin für Albanien organisieren."

In Köln hatte Feynsinn sofort Kontakt zur Flüchtlingshilfe aufgenommen und engagierte sich bei der sogenannten „Drehscheibe", die am Kölner Flughafen für Empfang und Verteilung der Tausenden ankommenden Menschen zuständig war. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen verbrachte er viele Nächte am Flughafen, um auf die Flüchtlinge zu warten. Die Stimmung in Deutschland war überwältigend. „Ich muss immer wieder gegen die in mir aufsteigende Rührung ankämpfen", sagte die Lehrerin, mit der er gemeinsam einen Dienst übernahm. „Wir schaffen das!", hatte Angela Merkel gesagt. Beflügelt nahmen Millionen ehrenamtlicher Helfer ihre Arbeit auf: Es entstand ein engmaschiges Netz der Flüchtingshilfe, das sich wie ein Schneeballsystem über ganz Deutschland ausbreitete. Riesige Lager mit Kleidungs- und Möbelspenden entstanden. Schnell wurde deutlich, dass vor allem sanitäre Bedürfnisse zusätzlich gedeckt werden mussten. Über soziale Medien gab es Aufrufe und kurz darauf spendeten Menschen die fehlenden Zahnpasten, Zahnbürsten, Tampons, Rasierartikel, aber auch neue Strümpfe oder Schuhe. Überall im Land trafen Syrer, Iraker, Afghanen, Albaner und Nigerianer mit engagierten Studenten, Hausfrauen oder Rentnern zusammen, um möglichst schnell Deutsch zu lernen. Künstler planten Aktionen. Musiker veranstalteten Festivals und ehemalige Fußballtrainer gründeten Fußballmannschaften, in denen Flüchtlinge und Einheimische gemeinsam spielten. Erst gab es kaum Bücher, aber im Internet fanden sich schnell Sprachangebote, die von den meisten Flüchtlingen und ihren Helfern willig aufgenommen wurden.

Auch Uwe und seine Freunde waren sofort in der Flüchtlingshilfe aktiv geworden. Menschen, die sich bis dato nicht kannten, saßen zusammen. Eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft war überall spürbar und machte alle glücklich. Ein Mitbewohner von Uwe hatte vor einigen Tagen sehr nette junge Algerier am Dom kennengelernt. „Wir saßen vor dem Dom und sie tranken ihr erstes Kölsch aus einer Flasche und waren ganz selig, endlich in Deutschland zu sein. Jetzt sind die erst einmal bei mir. Sie wohnten bisher mit hunderten jungen Männern und Familien in Turnhallen." Es war eine so witzige Stimmung. Sommer 2015, ein großes Coming together in Germany. Paula, die ich bei einer der Nächte bei der Drehscheibe kennengelernt hatte, war dabei zusammen mit Uwe im Internet eine Übersicht mit Einrichtungen und Projekten in der eigenen Umgebung einzurichten. Sie saßen tage- und nächtelang zusammen. Besonders stolz waren auf die interaktive Karte von Pro Asyl, die sie mit den Seiten des Caritasverbandes verlinkt hatten. Auch mit den Landesflüchtlingsräten hatten sie Kontakt aufgenommen. Ob Deutschunterricht geben, Flüchtlinge zum Arzt begleiten, als Pate für Flüchtlingskinder, Dolmetschern, Kunst- und Gartenprojekte unterstützen, Ausflüge mit Flüchtlingen unternehmen oder einfach mit Flüchtlingen eine Runde Kicken - Hilfe ist überall willkommen und vielerorts nötig." Immer wieder überkam Feynsinn dieser Schauer guter, warmer Gefühle.

Das Auto war vollbeladen mit kleinen Stofftieren, alter Kleidung und Wasserflaschen. Uwe hatte an die hinteren Seitenfenster Papierbögen geklebt, auf die sie mit dicken Wachsmalstiften „Refugees Welcome" geschrieben hatten. Paula machte noch ein Foto von dem Auto und lud es dann auf ihre Facebook-Seite. Sofort bekam sie innerhalb von zehn Minuten mehr als fünfzig Likes und viele positive Kommentare. Sie hörten wieder die Musik von Khebez Dawle und fuhren seit Stunden auf der Autobahn Richtung München. Feynsinn saß hinten und neigte sich nach vorne zu Uwe und Paula: „Lasst uns eine Pause machen, dort ist die nächste Raststätte." In der Tankstelle reichte Feynsinn seinen Becher hinüber. Seit zwei Wochen schleppte er überall seinen eigenen Becher mit und setzte sich dann wieder ins Auto, um auf Uwe und Paula zu warten. Er bekam eine Gänsehaut, als er im Radio ein Interview mit Niklas Frank hörte. Der Sohn von Hans Frank, dem sogenannten „Metzger von Krakau", sprach von seinen Eltern. Er war der einzige von fünf Geschwistern, der noch lebte und der sich aktiv mit der Familiengeschichte auseinandergesetzt hatte. Als man ihn zur Flüchtlingskrise befragte und zu dem herzlichen Empfang, den die Deutschen den Flüchtlingen bereiteten, sagte er: „Ich finde das wunderbar, aber ich bin mir sicher, dass sich die überwiegende Mehrheit der Deutschen in Stille dagegen wendet." (Les enfant des Nazi.S. 136)

Uwe drehte sein iPhone so laut es ging. Seit Wochen hörten sie die Musik von Khebez Dawle. Die syrischen Musiker waren wie alle anderen mit einem Flüchtlingsboot auf einer griechischen Urlaubsinsel gelandet. Als erstes verteilten sie ihr neues Album auf CD an Urlauber. Diese außergewöhnliche Begegnung machte über Facebook die Runde. Uwe und Paula waren vor einigen Tagen extra nach Berlin gefahren, um die Band dort life spielen zu hören. Die letzten Wochen waren sie ständig unterwegs gewesen, Spenden und Kleidung bei Freunden abzuholen. Sie hatten auf Facebook die ganze Zeit Spendenaufrufe gepostet und davon berichtet, dass sie einen Monat im Münchener Hauptbahnhof beim Empfang der Flüchtlingen helfen wollten. Sie waren euphorisch. Alle waren von ihrem Einsatz begeistert. Die ganze Welt schien nach Deutschland zu gucken. Endlich gingen einmal positive Nachrichten von Deutschland aus. Während andere Länder die Flüchtlinge abwiegelten, zeigte Angela Merkel und das ganze Land, was Gastfreundschaft und Herzlichkeit bedeutete.

Tagsüber halfen sie am Bahnhof bei der Betreuung von Flüchtlingen. Die Malteser waren sehr aktiv und sorgten für Unterkünfte in der Nähe des Bahnhofes. Außerdem ging es darum, die Flüchtlingsströme Richtung Norden zu betreuen. Viele Iraker wollten weiter nach Schweden, weil sie dort schon Familienangehörige wohnen hatten.

Abends führten sie die Planung von Sprachkursen und die Vermittlung von privaten Unterkünften weiter. Schleichend begann sich der Ton der Diskussionen zu verschieben. In München waren sie bei Benedikt untergekommen. Anders als in Köln spürten sie zu ihrer Überraschung neben aller Euphorie auch Gegenwind, was die Aufnahme der Flüchtlinge betraf. Die bayerische Schwesterpartei CSU hatte die Entscheidung von Merkel verurteilt, weil sie die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge ungeprüft nach Deutschland einreisen ließ. Unter den Freunden von Benedikt waren erzkonservative Bayern, aber auch weltoffene Menschen. „Wir können nicht alle aufnehmen". „Wir machen nicht die Politik, wir helfen den Menschen vor Ort". „Alles andere ist nicht christlich", legte der atheistische Uwe nach, um die erzkonservativen Bayern aus der Reserve zu locken. „Was sind deine Bedenken? Wir stehen doch gut aufgestellt da. Die Wirtschaft freut sich über Arbeitskräfte. Außerdem werden die Geburtenrückgänge ausgeglichen. Es geht um Menschenleben. Menschen, die eine harte Flucht über das Meer in Kauf genommen haben, um zu überleben. Ist euch klar, wie viele Menschen schon im Mittelmeer gestorben sind? Wir haben eine moralische Verpflichtung". Als Feynsinn später alleine mit Benedikt war, hörte er einfach nur zu, wie es seine Art war. Es hat immer alles zwei Seiten, das war seine Devise und er wollte verstehen, wie die anderen dachten. „Ich war am Anfang sehr begeistert, auch weil die Medien alles so positiv dargestellt haben. Aber ehrlich gesagt bin ich jetzt schon die vielen jungen Männer müde. Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich war schon einmal in Afghanistan. Das ist ein wunderschönes Land, aber die Kultur dort ist mir fremd."

Als sie zurückfuhren, hatte er keine Zeit mehr, weil die Schule wieder anfing. Vielleicht war er auch erleichtert, nicht mehr mit dem Elend der vielen flüchtenden Menschen konfrontiert zu sein. Viele waren mit Gummilatschen, nur einem Pullover und einer Plastiktüte in München angekommen. Viele junge Männer. Schwangere Frauen mit ihren Kleinkinder, die sehr verschreckt und erschöpft aussahen. Uwe plante nach Griechenland hinunterzufahren. „Es ist unglaublich, wenn du hilfst, einen Menschen vom Schlauchboot aufs Land zu ziehen. Ich muss einfach nach Lesbos, um dort beim Empfang der Flüchtlinge zu helfen. Dort ist so viel Leid und es werden noch so viele mehr kommen."

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now