27. Kapitel

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1942

Das schwarze Tin-Lizzy-Modell von Ford fuhr durch die grüne bergische Landschaft. Einzelne Bäume waren gelblich-rot eingefärbt. Es waren kaum Autos auf der Straße. Blick auf den Tachometer. Die Geschwindigkeit ließ sich noch beschleunigen. Halb 10 Uhr auf der Armbanduhr. „Wann wird der Zug in Köln abfahren?" „Viertel nach 11 Uhr." „Das wird verdammt knapp", sagte Vater Freund und drückte mit seinem linken Fuß noch mehr auf das Gaspedal. „Wieso habt ihr nicht mit uns gesprochen?", fragte er und blickte dabei in den Rückspiegel. Luise saß auf der Rückbank, schwieg und biss sich auf die Lippen. Es war alles Marlenes Idee. Sie war wie immer die treibende Kraft. Seitdem sie wusste, dass Carl nach Polen gehen würde, war sie sofort Feuer und Flamme gewesen, auch in den „Lebensraum Ost" umzusiedeln.

Vater Freund saß mit seinem eleganten grauen Hut am Steuer. Er blickte kurz hinüber zu Wilhelmines Mutter. „Wenn es einen Zeitpunkt gibt, wo du mir alles sagen musst..." Elisabeth Müller schaute hinüber zu ihm. Sie blickte ihm kurz in seine graue Augen. Er sah übermüdet aus und hatte dunkle Augenringe und Falten, die ihr bisher nicht aufgefallen waren. Es war schön, neben einem Mann zu sitzen, der einen vornehmen anthrazitfarbenen Wollmantel trug. Luise war spontan eingestiegen, als Vater Freund und Wilhelmines Mutter bei Himmelreichs vorbeikamen. Luise war sich keineswegs so sicher, worum es Vater Freund wirklich ging. Er war ihr einmal unangenehm nahe gekommen. Seitdem war sie nie wieder mit Marlene zu Wilhelmine gefahren, so sehr sie auch das gut eingerichtete Haus bewunderte. Vor allem die Küche mit den modernen Küchenmaschinen hatten es ihr angetan. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie sich mit Marlene und Wilhelmine langweilte, die in letzter Zeit so oft für die Schule zusammen arbeiteten. Seit sie in der Hitlerjugend aktiv dabei waren, verflog die Zeit. Sie waren alle die ganze Zeit nur unterwegs. Marlene kam sehr gut bei der Führungsriege an. Luise investierte ihre ganze freie Zeit für das Lauftraining, Werfen und gymnastischen Tanz. Vater Freund hatte ihr das Geld für das kurze Tanztrikot vorgestreckt. Marlene hatte Wilhelmine darum gefragt. Luise beugte sich rasch nach vorne und errötete dabei, weil es ihr peinlich war: „Ich habe das Geld für das Trikot zusammen", sagte Luise. „Kind, das höre ich gerne. Du bist ehrlich und ich hätte gar nicht mehr daran gedacht. Leg es gut zur Seite."

Kurz vor 11 Uhr fuhren sie auf die Mülheimer Brücke. „Ich war 1929 bei der Einweihung durch Konrad Adenauer dabei", Vater Freund musste abbremsen, weil der Lastwagen vor ihm seinen Schrott verlor. „Verdammt, das kostet uns wertvolle Zeit". Als Luise in den Kölner Bahnhof hineinlief, war es zu spät. Der Sonderzug war bereits Richtung Osten abgefahren. Luise schlüpfte schnell wieder in den Ford und schloss schwungvoll die Tür, während Vater Freund schon dabei war, schnell zu wenden und auf die neue Kraftwagenstraße zu lenken, die Köln mit Bonn neuerdings verband. „In Bonn werden wir sie sicherlich rechtzeitig aufhalten können". Vater Freund schaute auf den Tacho und beschleunigte wieder. „Ich wusste nicht, wie konkret ihre Pläne waren", sagte Wilhelmines Mutter. „Vielleicht ist es aber auch gar nicht so verkehrt, wenn die beiden sich im Osten nützlich machen? Dann kommen sie auch nicht auf die schiefe Bahn?" „Ich bitte dich - hier geht es darum, dass eine ganze Jugend politisch instrumentalisiert wird. Der jugendliche Idealismus wird ohne Skrupel ausgenutzt." Wilhelmines Mutter schaute weiter durch die Windschutzscheibe. „Die Nazis drehen sich wie der Wind und werden ganz Deutschland ins Verderben führen. Konrad Adenauer hatte die Idee, diese Autobahn bauen zu lassen und dafür Erwerbslose mit dem Geld aus der Arbeitslosenkasse zu bezahlen. Die NSDAP hat die ganze Zeit dagegen gemeutert. Nur reiche Aristokraten und jüdische Großkapitalisten würden profitieren, war ihre Argumentation. Es ist eine der Gründe, warum ich bald wieder ausgetreten war. Das war mir einfach zu hinterwäldlerisch. Diese ganze Blut-und-Boden-Ideologie und das zurück ins Ländliche ist mir einfach zuwider. Jetzt kopieren sie die Idee und stellen die Autobahn als Erfindung der Nazis da." „Aber Ihre Söhne sind doch auch dabei", sagte Luise und bereute sofort, den Mund aufgemacht zu haben. Sie sah im Hinterspiegel, wie Vater Freund sich auf die Lippen biss. Luise schaute schnell aus dem Seitenfenster und spürte, wie die Reifen sich über den Asphalt rieben. Sie hielten schon lange eine hohe Geschwindigkeit. „Verdammt!", sagte Vater Freund. Wilhelmines Mutter folgte seinem Blick auf die Tankuhr. „Wir haben genug Sprit im Ersatzkanister. Sie behielt wie immer die Ruhe, nahm ihm den Kanister aus der Hand und füllte schnell den Tank. Vor dem Bahnhof war so viel los, weil alle Abschied nehmen wollten und sie kamen nicht durch. „Jetzt bleibt uns nur noch Bad Godesberg."

Die jungen Frauen hatten auf die Schnelle Ausbildungspapiere als Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern und Sekretärinnen erhalten und standen nun mit ihrem jugendlichen Schwung und einer riesigen Begeisterung am Bahnhof. Endlich würden sie als Aktivistin den neuen deutschen Lebensraum zu erobern. Vater Freund suchte die Organisationsstelle. Als der Zug einfuhr, sah Luise Marlene sofort. Erstaunt stand diese am geöffneten Fenster und hüpfte direkt vom Zug aufs Gleis. „Was ist passiert?" „Ist etwas mit Mutter?" Vater Freund nahm Wilhelmine zur Seite und sprach mit ernster Miene auf sie ein. Sie schaute ihn nachdenklich an und blickte zu Marlene herüber. Was hatte er ihr gesagt? Dann sah sie ihre Mutter. „Abfahrt!", rief der Schaffner und dann musste alles ganz schnell gehen. „Marlene, ich bleibe hier, verzeih mir". „Aber schreibe mir regelmäßig". Dann sprang Marlene in den Zug, die anderen im Abteil waren schon dabei, Wilhelmine ihr Gepäck durchs Zugfenster herauszureichen und schon verließ der Zug den Bahnhof Bad Godesberg.

Wilhelmine setzte sich zu Luise auf die Rückbank. „Was machen deine Wettkämpfe? Ich habe von deinen sportlichen Erfolgen gehört", sagte Wilhelmine und bevor Luise antworten konnte, fing sie grundlos an zu schluchzen. Luise hielt ihr die Hand auf die Schulter, reichte ihr ein Taschentuch und versuchte gleichzeitig zu verstehen, was die Erwachsenen vorne miteinander besprachen. „Sie geht in die Schweiz und kann dort auf einem Schweizer Internat das Abitur machen und Ärztin werden." Als sie Luise bei ihren Eltern ablieferten, schluckten diese kurz, als sie von Marlenes Aufbruch hörten und sagten dann resigniert: „Wir können sie nicht aufhalten."

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now