6. Kapitel

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1936

„Frau Poppke will dich gleich sprechen." Schon wieder die Frau Bankdirektorin, das verhieß nichts Gutes. Dabei hatte der Tag so gut gestartet. Die Sonne strahlte, der Himmel war hellblau und die Temperatur kletterte schon am Vormittag auf 26 Grad im Schatten hinauf. Der erwachte Gemeinschaftssinn war überall präsent: die Fahnen, die vielen Kinder und Jugendlichen in sportlicher Kleidung. Dem großen Tag der Reichsjugendspiele hatte sie lange entgegengefiebert. Genauso wie sie und alle sich schon auf die Übertragung der Olympischen Sommerspiele freuten, die im August in Berlin eröffnet würden. Wie stolz war sie gewesen, als ihre Klasse sie ins Organisationsteam gewählt hatte. Sie war verantwortlich für eine der Mädchengruppe. Die Organisation klappte wie am Schnürchen. Das hässliche Wort der „Stählung", das bei den Begrüßungsworten am frühen Morgen gefallen war, überhörte sie einfach, weil es einen merkwürdigen Nachklang in ihren Ohren hatte.

„Gib dein Bestes! Los, streng dich an und laufe so schnell du kannst", feuerte Marlene die kleine Erica mit den dunklen Zöpfen an. Aber diese hatte schon beim Start jeglichen Siegeswillen aufgegeben. Die gleichaltrigen Klassenkameradinnen waren plötzlich zu unerreichbaren nordischen Göttinnen auf dem roten Aschenplatz geworden. Lange, athletische Beine. Die Schnellste von allen war auch in der Schule eine der Besten. Ihr schienen die vielen guten Ergebnisse im Sport fast peinlich. Die anderen Mädchen ließen Erica spüren, dass sie nicht richtig zu ihnen gehörte. „Gib nie auf und zeige immer dein Bestes! Vergleich dich nicht mit den anderen, sondern gib alles, was du geben kannst." „Ich mag nicht mehr. Das hat doch alles sowieso keinen Sinn." „Du kannst doch jetzt nicht aufgeben! Streng dich an! Das, was du hier im Sport erlebst, kannst du auf jede Situation im Leben anwenden. Du wirst überrascht sein, wie viel du erreichen kannst, wenn du immer dein Bestes gibst!" „Mein Vater hat wochenlang mit mir trainiert. Aber ich werde immer langsamer als die anderen sein, weil meine Beine kürzer sind." Sie konnte sich in die junge Schülerin hineinversetzen. Immer die Letzte zu sein war hart. Gleichzeitig war sie aber auch von der Tochter des Bankdirektors genervt. Das verwöhnte Mädchen schien überhaupt keine Willenskraft zu haben.

Es ging weiter zum Weitwurf. Die Mädchen standen der Größe aufgereiht. Zwei Mädchen maßen die Wurflänge auf der weißen Entfernungsmarkierung. Im Einzelfall nahmen sie das Maßband zur Hilfe. Auch hier zeigte sich die Überlegenheit der fünf großen blonden Mädchen. Es schien doch etwas dran zu sein an der Rassenlehre. Dann tippte die Frau Poppke ihr unerwartet auf die Schulter. Natürlich in feinster Garderobe. „Es kann doch nicht sein, dass Erica gegen Mädchen antreten muss, die viel größer sind als sie. Da muss es doch einen Ausgleich geben." „Guten Tag Frau Bankdirektorin. Es hat alles seine Richtigkeit." „Wo fördern Sie denn hier den Gemeinschaftssinn?". Im Hintergrund begann ein Chor Lieder anzustimmen. Die Stationen wurden abgebaut und die Siegerehrungen vorbereitet. Was würde sie gleich auf der Tribüne sagen? Bei der Überreichung der Ehrenurkunde wollte sie jeder Schülerin das Gefühl geben, eine besondere Leistung gezeigt zu haben. „Jedes Kind sollte doch seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert und motiviert werden. Was Sie hier veranstalten ist unmenschlich." Marlene ordnete die vielen Blätter mit den Ergebnisse und winkte den eingeteilten Schülerinnen zu, dass sie die Bälle einsammeln und die Maßbänder zusammenlegen sollten. Am Himmel waren Segelflieger, die ein leichtes Summen in der Luft hinterließen.

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Wie sehr sie Frau Poppke verachtete. Auch und trotz ihrer teuren Kleidung. Ihre Eltern sicherten ihr Einkommen durch mühselige Handarbeit. Sie musste an die vielen Messerschächte denken, die sie in einem Monat anfertigten. Sie schämte sich nicht mehr. War die Arbeit ihrer Eltern nicht ehrlicher als der Handel mit Geld? Es war Unrecht, wie unterschiedlich die Chancen für Kinder waren. Einige hatten schon bei Geburt für ihr Leben ausgesorgt, während Wilhelmines Mutter aus Ostpreußen fliehen musste, weil sie dort verhungert wäre. Auch im Rheinland lebten sie nur am Existenzminimum. Auch wenn Wilhelmine begabt war, reichte es nicht für das Schulgeld. Wilhelmine setzte sich aber durch, war fleißig und sicher hatte es auch damit zu tun, dass sie intuitiv sofort beim BdM mitarbeitete, was ihre allein erziehende Mutter zutiefst missbilligte, weil die tapfere Frau schon als junges Mädchen den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges hautnah mitbekommen hatte. Die jungen Männer, die begeistert mit Kreide auf die Eisenbahnwaggons Richtung Frankreich schrieben „Wir machen einen Ausflug nach Paris und sind Weihnachten wieder mit Geschenken zurück", dann schwer verletzt oder gar nicht zurück kamen. Wilhelmines Vater hatte 1914 kurz zuvor noch seine Erbschaft, ein Haus, an seinen behinderten Bruder und dessen Frau überschrieben, weil er in seiner Großzügigkeit und Vorfreude auf sein Leben sicher war, allzeit ein gutes Einkommen zu haben. Als er dann kurz nach dem Krieg verstarb, musste sich Wilhelmines Mutter ohne familiären Rückhalt durchschlagen. Nie sah Wilhelmine ihre Mutter weinen.

„Wir gehen nach Altersstufen vor - das ist fair.", sagte Wilhelmine, die Marlene zur Hilfe kam. Marlene suchte in ihrem Rucksack nach der Trinkflasche. Erica tat Marlene wirklich leid. Nicht nur, weil sie unsportlich war, sondern auch weil ihre Eltern so viel von ihr erwarteten. Das war wieder einmal typisch. Sonderbehandlungen für die reichen Sprösslinge. Selbst die dümmsten Kinder wurden mit Nachhilfe in Latein, Mathematik und Englisch durch die Oberschule geschleust. Wir werden auf die tatsächliche Leistung des einzelnen achten. Einige Monate später zog die Familie von Erica weg. „Sie sind nach Berlin umgezogen und Ericas Vater ist jetzt ein hohes Tier in der neuen Regierung." „War Erica nicht Halbjüdin? Und wollten sie nicht über Südfrankreich nach Südamerika?"

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now