3. Kapitel

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1932

„Heute habe ich eine Geheimschrift gelernt", sagte Matthias und schmiss seine Schultasche und den Turnbeutel auf die Bank in der Küche. Endlich Freitagmittag. Marlene und Luise saßen schon am Mittagstisch. Die Kinder waren oft alleine. Die Mutter litt unter Stimmungsschwankungen und Depressionen. Wenn es ihr früher schlecht ging, halfen ihre Verwandten aus. Marlenes Vater hatte seinen jüngeren Bruder gleich in den ersten Tagen in Verdun sterben sehen. Er selber kam mit einem zertrümmerten rechten Fußgelenk wieder, das ihn humpeln ließ. Außerdem hatte er sein Augenlicht verloren und saß stumm in der Werkstatt, um die Halterung für Solinger Messer anzufertigen.

Es gab heißen Milchreis mit Zimt, Zucker und Pflaumen aus dem Glas. Matthias zeigte seinen beiden älteren Schwester sein Schulheft. „Ist das nicht ein bisschen viel auf einmal? Lernt ihr im ersten Schuljahr nicht erst einmal das normale Alphabet?", fragte Luise, der ihr kleiner Bruder oft nicht ganz geheuer war. Er lernte alles so viel schneller. „Frau Jacobi meinte, ich solle mich einmal mit den Runen beschäftigen, damit ich mich nicht so langweile...". Marlene schaute sich den Kreis mit den schwarzen ungewohnten Schriftzeichen an. 18 Buchstaben waren wie die Uhrzeiten im Kreis angeordnet. Der elfte Buchstabe war das S, das auch die SS für sich gebrauchte. Ein Buchstabe sah aus wie ein B, eines wie ein Pfeil, eines wie ein Kreuz und ein anderes wie ein Stern.

Nach dem Mittagessen deckte Luise den Tisch ab und fing sofort mit ihren Hausaufgaben an. Marlene spülte und setzte sich neben ihren kleinen Bruder und ließ ihn einfach erzählen, was er Neues in der Schule gelernt hatte. „Guido von List war ein Prophet. Er hat die Armanen gegründet. Die Armanen sind verwandt mit dem Urvolk der blonden, blauäugigen Ariogermanen und die haben die Runen schon seit Urzeiten verwendet." „Ist das eine erfundene Geschichte oder gab es den wirklich?" „Keine Ahnung, aber ich glaube schon", sagte Matthias. Dann fragte Marlene ihn einige Runen ab und war wieder einmal verblüfft, wie gut sein Gedächtnis war. Fehlerfrei konnte er jede Rune aus seinem fotografischen Gedächtnis auf das Schmierblatt zeichnen, das vor ihm auf dem Tisch lag.

Marlene und Luise kannten Frau Jacobi schon bevor sie die Klassenlehrerin ihres Bruders Matthias wurde. Sie war dafür bekannt, dass sie eine gute Keramikerin war und den Töpferkurs am Freitagnachmittag anleitete. Der Kurs fand im Keller der Grundschule statt und wenn sie zu spät kamen, mussten sie sehr laut klopfen, bis sie unten gehört wurden und ihnen jemand die Tür öffnete. Jeder hatte ein Holzbrett vor sich liegen und Modellierhölzer. Frau Jacobi öffnete den gut verschlossenen Tonballen mit einer konzentrierten Haltung. Dann kam ein Mädchen nach dem anderen und auch die wenigen Jungen, die sich in den Töpferkurs verirrt hatten, und jeder bekam nach kurzer Absprache mit Frau Jacobi ein dickeres oder dünneres Stück abgeschnitten. Sie hielt dazu den Draht zwischen den beiden Hölzer gespannt und  schnitt die weiche, sehr schwere Masse vom Leib ab. „Ton ist das Sauberste der Erde", sagte Frau Jacobi oft. Marlene und Luise trugen beide ein altes verschlissenes Männerhemd. So richtig verstand Marlene den Spruch mit der Sauberkeit von Ton nicht wirklich. Sie guckte auf ihre Hände, die braun verschmiert waren. „Seit Tausenden Jahren wird Ton gesammelt und abgebaut", sagte Frau Jacobi. Für sie war Ton die Mutter Erde persönlich. Sie fuhr regelmäßig zu ihren Verwandten in den Westerwald, wo der Umgang mit Ton und vor allem das Ausgraben aus der Erde mit Meditation, Gebet und Reinigungshandlungen verbunden wurde.

Sie nahm nur sehr wenig Ton in ihre Hände und rieb die Hände kreisförmig aneinander bis sie eine kleine, feine Kugel geformt hatte. Ihr braucht 18 Kugeln. Hat jemand eine Ahnung, warum genau 18?" Marlene musste an Matthias Hausaufgaben denken und meldete sich. „Genau, 18 Runen. Und das sind germanische Buchstaben", erklärte Marlene dann noch schnell den anderen, die mit dem Begriff nichts anfangen konnten. Als die ersten wie Luise ihre kleinen Kugeln fertig hatten, holten sie die Stempel bei Frau Jacobi. Luise drückte vorsichtig den Stempel mit dem Runen-S auf die erste Kugel bis sie ein abgeflachte Oval war. Als sie den Stempel vorsichtig löste, blieb vertieft das S im Ton stehen. Als die Runen gebrannt waren, polierten sie die einzelnen Elemente vorsichtig mit feinkörnigem Schmirgelpapier. Marlene mochte das Klappern der kleinen Keramikmünzen. In den letzten Wochen hatten sie sorgsam kleine Stoffbeutel gewebt. Einige Schüler hatten so viel Freude an den Runen, dass sie im Herbst fast 100 Beutel zusammenstellten. Frau Jacobi verkaufte diese an die deutschlandweit vernetzten Runen-Liebhaber.

„Frau Jacobi hat einen Auftrag für uns beide", rief Matthias Marlene von weitem zu. Er holte einen dicken beigefarbenen Umschlag mit Büttenpapier aus seiner Schultasche. „Frau Jacobi meint, dass du mir helfen könntest, Mitgliedsurkunden für den Bergisch Neukirchener Turnverein in Runenschrift zu zeichnen." Die Jacobis waren sehr engagierte Sportler. Herr Jacobi hatte 1924 und 1928 an der Olympiade als Turner teilgenommen und einmal sogar eine Silbermedaille am Barren gewonnen. Frau Jacobi war als Jugendliche eine bekannte Leichtathletin gewesen. „Oh, natürlich". Diese Aufgabe war wie eine große Ehre für Matthias und Marlene. Auf dem oberen Drittel gestaltete Marlene das Wappen des Turnvereins und zeichnete darunter verschlungene Eichenäste mit den typischen welligen Blättern und der Frucht des typisch deutschen Baumes, der Eiche. Darunter kamen dann eine dickere schwarze Überschrift und ein längerer Text in Runenschrift. Matthias war hellwach und korrigierte den Entwurf des Textes auf Schmierpapier. Im unteren Drittel schrieben sie Bergisch Neukirchen und ließen Platz für die Unterschriften der Vereinsgründer.

Matthias und Marlene saßen auch noch den Freitagnachmittag und Samstagmorgen zusammen und arbeiteten fleißig. Sie waren beseelt von der Aufgabe. Sie freuten sich schon, am Nachmittag die Urkunden bei der Familie Jacobi persönlich abgeben zu dürfen. Die Jacobis wohnten unterhalb von Imbach in einer Villa, die fast wie eine Burg aussah. Sie klingelten. Frau Jacobi war wie immer stilvoll nordisch gekleidet. Sie strahlte wie eine Göttin und führte sie in ihre Wohnzimmer mit schlichten blau-grünen Webteppichen. Marlene und Matthias waren eingeschüchtert durch die vornehme Stimmung in der Villa. Frau Jacobi hatte alle Räume nach der vorchristlichen „nordischen" Tradition eingerichtet. Der katholische Pfarrer in Opladen hielt die Familie für „neuheidnisch und antisemitisch". Marlene hatte die beiden Begriffe in Zusammenhang mit Frau Jacobi einmal auf der Straße aufgeschnappt, wusste sie aber nicht einzuordnen.

Im Eingangsflur hing das Wappen der Artamanen. Auf blauen Grund waren die Rune und einzelne Sterne mit goldenen Faden eingestickt. Marlene verneigte unmerklich ihren Kopf vor dem Wappen. Sie bekamen beide eine Glas Limonade und Rosinenschnecken. An besonderen Tagen wie dem Mittsommerfest, lud Frau Jacobi eine Gruppe von erlauchten Eingeweihten ein. Matthias und dadurch als ältere Begleitung auch Marlene waren natürlich auch eingeladen. Marlene schwebte immer an Tagen wie diesen. Frau Jacobi war so unglaublich intelligent. Aber nicht kalt und berechnend, sondern romantisch und exzentrisch. Eine Ästhetin. Genauso wollte Marlene auch werden.

Wenn dann alle im Schneidersitz auf den gewebten Teppichen saßen und die Dämmerung einsetzte, empfing Frau Jacobi ihre Eingebungen. Sie sprach dann wie in Trance während Matthias und Marlene leise auf den Glockenspielen musizierten. Sie machten das gut. Sie waren die perfekten Gehilfen von Frau Jacobi und passten nur allzu gut ins Dekor. Frau Jacobi bezog ihre Visionen aus der Christus-Energie. In ihrem Deutschchristentum war Jesus nicht Jude, sondern Arier. Marlene liebte die Bilder von Jesus mit seinen goldblonden Haaren. Wie wunderschön das alles hier war. Frau Jacobi war schon als Kind von ihrem Vater ins Völkische eingestimmt worden.

Marlene fühlte sich durch die Musik und visionären Reden von Frau Jacobi in eine erhobene Stimmung versetzt. Einmal im Monat lud Frau Jacobi sie neuerdings auch zu den Neumond-Meditationen nur für Frauen ein. „Der Neumond ist ein ganz besondere Zeit der Einkehr für Frauen. Mütter sammeln dann ihre Kraft und sammeln sich, um neue Visionen für den nächsten Monat zu erhalten", erklärte Frau Jacobi. Inzwischen hatte sie dem Führer schon vier Kinder geschenkt und war mit einem fünften Kind schwanger. Es war ungewöhnlich, dass sie weiter unterrichtete. Frau Jacobi symbolisierte mit ihrer volkstümlichen gewebten skandinavischen Bluse das Frauenmodell. Mütterlich, liebevoll, herzlich und so erhaben.

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now