18. Kapitel

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1938

Am Nachmittag fuhr Marlene hinunter zur Wiembach, wo Wilhelmine mit ihrer Mutter wohnte. Sie arbeitete jetzt als Köchin bei einem verwitweten Chemiker. „Professor Dr. Ernst Freund" stand auf dem Emailschild. Marlene klingelte. Die Putzfrau öffnete ihr: „Hallo Marlene, Wilhelmine grüßt dich. Ich soll dich schon einmal ins Wohnzimmer setzen." Marlene saß im schönen Esszimmer, blickte auf die Allee. Im Büro diktierte „Vater Freund", wie Wilhelmine den neuen Mann ihrer Mutter nannte, der Sekretärin seine neuesten Untersuchungen. „Amorphes Pulver, geruchlos, mit etwas bitterem Geschmack zur Wasserabsorbation neigend. Beim Erhitzen zersetzt sie sich unter Funkensprühen ohne zu schmelzen. Punkt, neuer Absatz."

„Kaliumpermanganat" murmelte Marlene leise mehrmals vor sich her. Sie hatte keine Ahnung von Chemie. Aber natürlich kannte sie den Geruch von Chlor. „Worüber sollen wir denn nun das Referat vorbereiten?" Wilhelmine blätterte ein beigefarbenes Buch von Ernst Haeckel durch. Die Söhne vom Vater Freund hatten die meisten ihrer Bücher in den Regalen zurückgelassen und Wilhelmine war sie durchgegangen und hatte alle, die infrage kamen, auf den großen Tisch im Esszimmer ausgebreitet. Marlene und Wilhelmine wollten zwei Fliegen mit einer Klatsche schlagen und das Referat für den Deutschunterricht, das sie relativ frei bestimmen durften, wollten sie gleichzeitig für die Jugendarbeit verwenden. „Also Charles Darwin geht davon aus, dass sich das Tier- und Pflanzenreich immer weiterentwickelt. Es gibt Mutationen, also Veränderungen im Erbgut, die sich zufällig ergeben. Normalerweise sterben Tiere, wenn sie mit einer Mutation auf die Welt kommen schon im Mutterleib oder später. Aber manchmal überleben sie und haben sogar einen Vorteil gegenüber den anderen Tieren. „Also Marlene, verstehst du? Es geht immer weiter, nichts bleibt immer gleich. Und wenn dann ganz viele neue Kühe auf der Weide stehen, die stärker sind und mehr Milch geben, dann wird der Bauer diese neuen Kühe vermehren. Oder sie vermehren sich auch schon von selber und setzen sich dann durch." Vater Freund sagt, dass Kühe eigentlich nur Milch haben, um ihre Kälbchen zu versorgen". Während Marlene musisch begabt war, zeigte sich bei Wilhelmine inzwischen eine naturwissenschaftliche Begabung. Sie hatte die erste Zeit Schwierigkeiten in der Schule, weil ihre Mutter Probleme mit dem Schulgeld hatte. Seitdem ihr Leben aber besser wurde, waren ihre Schulnoten besser geworden.

„Als ich auf die Welt kam, musste meine Mutter bei Bauern leben, um überhaupt über die Runden zu kommen und sie hat trotzdem etwas aus ihrem Leben gemacht. Und jetzt wohnen wir bei einem reichen Witwer". Neugierig schaute Marlene Wilhelmine an und sagte: „Das klingt ja sehr gut für deine Mutter! Aber wie gehen wir mit dem Referat weiter vor?" Wilhelmine kaute auf ihrem Bleistift und schwieg. Plötzlich schien sie aber eine Idee zu haben.

Marlene war am Nachmittag mit Wilhelmine verabredet. Am frühen Morgen war sie mit Rucksack nach Solingen aufgebrochen. Auf der Rückfahrt gab es ein plötzliches und heftiges Rucken und der Zug hielt mitten auf der Strecke irgendwo in der Pampa an. Es passierte schon seit mehr als zwanzig Minuten nichts. Es herrschte eine erdrückende Hitze im Abteil und die Fenster ließen sich nicht öffnen. Marlene redete sich selber gut zu. Sie spürte, wie sie sich in eine Unruhe und Anspannung hineinsteigerte und zunehmend gereizter wurde. Sie spürte die steigende Spannung auch in ihrem Nacken. Überall die vielen Menschen. Das Durcheinander. Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter und auch von den Kniekehlen die Waden hinunter. Sie konnte nichts tun, außer abzuwarten. Wie unerträglich. Marlene konnte Stillstand und Leere nicht ertragen. Endlich fuhr der Zug wieder an. Ein Mann hatte sich vor den Zug geworfen. Keiner sprach über den Vorfall und alle waren nur froh, dass es weiter ging.

„Hallo Marlene, da bist du ja endlich", begrüßte sie Wilhelmine. Sie hatte eine rote gewebte Decke im Garten unter einem Baum ausgebreitet und es gab gekühlten Hibiskustee. „Ich habe schon alles durchdacht! Wir halten unser Referat über die Ford-Werke!" „Worüber?" Marlene war fasziniert von diesem Tee. Er schmeckte so erfrischend und fremd. Sie schwenkte die weiße Tasse hin und her. Der Tee schien fast dick flüssig violett zu sein. „Lass uns später arbeiten. Heute ist es einfach zu heiß." Die Welt war so wunderschön. Die vielen Blumen, Bäume, Tiere, Menschen. Ihr neues Lieblingsbuch war das von Georg Dionysus Ehret mit den vielen stilisierten Zeichnungen von Blumen und Schmetterlingen. Sie konnte stundenlang bei Wilhelmine nach der Schule sitzen und das Buch durchblättern. Auch den schwedischen Botaniker Carl von Linné, der das ganze Pflanzenreich klassifiziert hatte, verehrte sie. Zuhause hatte sie auch schon selber eine Reihe von Skizzen mit dem Bleistift angefangen, die sie anschließend mit Aquarell kolorierte. Ihre Lieblingsfrucht noch vor der Birne war die Himbeere. So hatte sie an einem Sonntagnachmittag mit der kleinen Gartenschere einen Zweig von der Himbeerhecke abgeschnitten, die sich hinter der Küche am Zaun zu den Nachbarn mit der großen Dogge befand. Der Hund machte ihr Angst.

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now