13. Kapitel

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1939

„Das kannst du dir nicht vorstellen", Hans hatte eine Reihe von Redewendungen, die er immer wieder in seine Sätze einstreute. Er guckte dann wirklich erstaunt wie ein kleines Kind. Hans Paffrath war auf der Realschule und wollte auf jeden Fall Kaufmann werden. Sein größter Traum war es, einen eigenen Schreibwarenladen zu eröffnen. Er war nicht besonders helle, aber mit ein bisschen Nachhilfe bekam er den Realschulabschluss hin. Marlene fand seine Formulierungen drollig und albern zugleich und war froh, als er dann endlich seinen langen Monolog mit „wenn wir dann erst einmal unseren eigenen Schreibwarenladen haben" beendete. Dann schaute sie hinüber zu Carl. Er war der Sohn einer der leitenden Chemiker der IG Farben-Fabrik. Er sah gut aus und war schlagfertig, souverän und intelligent. Carl fanden alle toll. Marlene träumte von ihm. Sie schrieb inzwischen Tagebuch und füllte Seiten mit Beschreibungen seiner katzengrünen Augen und notierte seine kurzen, immer geistreichen Bemerkungen. Alle waren dabei, als er Heinrich, dem blassen Sohn eines Beamten beide Beine brach. Es passierte natürlich rein zufällig. Alle lachten und es war halt ein dummes Missgeschick gewesen. Als Heinrich nach Wochen mit Krücken wieder in die Schule kam, baute sich Carl im Kreise alle Schulkameraden vor ihm auf.„Na, du alter Zittergreis, was macht die Welt?" Carls Mutter war so nett gewesen und hatte einen Atlas mit den besten Genesungswünschen vorbeibringen lassen.

Angeblich hatte Carl eine Affäre mit einer verheirateten älteren Frau. Dennoch blieb Marlene unsterblich in ihn verliebt. Viel wahrscheinlicher war es wohl, dass er brav zuhause saß und stundenlang lernte, um die guten Noten in der Schule zu bekommen, die seine ehrgeizige Mutter einforderte. Er versprühte Witz und Leichtigkeit. Diese war aber hart erkämpft. Wahrscheinlich rührte daher sein Bedürfnis, sich verdeckt an Schwächeren auszutoben. Für Marlene waren die täglichen Blicke auf ihn lebenswichtig. Es ging nicht um körperliche Berührung und Beziehung, sondern um Andacht und Unerreichbarkeit.

Johannes stand immer mit dabei ohne wirklich dazu zu gehören, wenn die Jungen wie aufgereiht und möglichst lässig darauf warteten, dass Carl aktiv wurde. Carl würde immer die große Liebe von Marlene bleiben, da war sie sich sicher. Aber irgendwann nach Monaten der Sehnsucht ohne Erfüllung, von der natürlich niemand, auch nicht einmal Luise eine Ahnung hatte, war Marlene dann in eine pragmatischere Phase ihres Liebeslebens übergegangen. Carl hatte sein Abitur mit Auszeichnungen an Deutschlands erstem Adolf-Hitler-Gymnasium abgelegt und hatte sein Studium begonnen. Marlene war ihm noch einige Male durch Zufall auf dem Bahnsteig in Opladen begegnet. Sie tauschten kurze Floskeln aus.

Aber irgendwann war er ihr dann doch aus dem Sinn gekommen und in dieser Nacht würde es endlich so weit sein. Hans war doch wirklich ein netter Kerl. Marlene atmete tief. Die Abendluft zog durch die offen stehenden Fenster. Es war immer noch sehr warm. Keine wirklich Abkühlung. Die Sterne funkelten am Himmel. Sie sah sich schon, wie sie in dem bequemen Kleid leise die Treppe hinunterlaufen und durch die Hintertür verschwinden würde. Sie verspürte Lust, ohne verliebt zu sein. Lust an der Liebe, der Sommernacht und der Aufregung.

„Bist du noch wach?" Marlene konnte es nicht glauben. Warum schlief Luise nicht endlich ein? Sollte sie einfach so tun, als hätte sie nichts gehört und darauf hoffen, dass sie doch endlich einschlief? „Marlene?" „Ja, Luise?" „Ich kann nicht einschlafen. Weißt du, an wen ich die ganze Zeit denken muss?" „Nein, an wen?", fragte Marlene langsam schon ein wenig genervt. „Also, ich glaube du kennst ihn auch, an den Hans Paffrath. Er hat mich heute so merkwürdig angegrinst". Marlene biss sich auf die Lippen und konnte sich gut vorstellen, warum. Wahrscheinlich hatte Hans Luise so angegrinst, weil er dachte, die Schwester wäre eingeweiht. „Marlene, warst du auch schon einmal so richtig verliebt?" Am nächsten Tag wachten beide unausgeschlafen auf. Wieder ein heißer Sommertag. Auf dem Weg zur Schule fing Hans Marlene ab. Er war sichtlich enttäuscht und auch in seinem Stolz gekränkt. Einige Wochen später bekam Luise ihren ersten Liebesbrief.

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now