19. Kapitel

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1939

Johannes stand immer bei der Gruppe der Jungen. Es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass er ein Außenseiter war. Er war aber keineswegs ein Opfer. Er war ungelenk und jeden Morgen tastete er als erstes vor dem Spiegel seinen Rücken nach neuen Pickeln ab. Sein ganzer oberer Rücken war ein Eiterherd. Manche saßen tief unter der Haut. Andere brauchten nur vorsichtig berührt werden und schon sprang der gelbe Eiter heraus und er tupfte den blutigen leeren Krater mit Mull trocken. Er ekelte sich zutiefst vor sich selber. Auch sein Gesicht war völlig von Akne übersät. Jeden Morgen gab es neue Pickel, die herangereift waren. Der Hautarzt hatte ihm davon abgeraten, die Eiterherde auszudrücken. Oft wachte er zudem mit einer feuchten Unterhose und der Erinnerung an einen erotischen Traum auf, was ihn sich noch mehr gegen sich selber auflehnen ließ. Seine ganze Körperlichkeit schien immer mehr außer Kontrolle zu geraten.

Alles hatte so gut angefangen in seinem Leben. Sein Vater war Landgerichtspräsident. Johannes war als vierte Kind auf die Welt gekommen. Mit Begeisterung war er jahrelang Messdiener und später aktiv als Jugend- und Freizeitleiter. Er war ein ausgesprochen hübsches Kind. Sehr aufgeweckt, immer Klassenbester. Beliebt, geschätzt, vielleicht ein wenig verträumter und zarter gebaut als seine Klassenkameraden. Die Mütter der Mitschüler schauten sich den kleinen Johannes sehr gerne an, weil sein Gesicht so harmonisch und niedlich ausschaute, dass er ihre Muttergefühle weckte, vor allem weil die eigenen Söhne sich schon stark verändert hatten und härtere, männlichere Züge im Gesicht zeigten. Auch die Mädchen mochten ihn. Er konnte geduldig die schwierigsten Mathematikaufgaben für die Freundinnen seiner Schwester erklären.

Im Frühjahr 1933 änderte sich dann plötzlich alles schlagartig für ihn. Von einem Tag zum anderen ergriffen die Hormone die Macht in seinem Körper. Seine Haut juckte wie verrückt und er litt plötzlich unter heftigen Asthma-Anfällen. Vor allem nachts war seine Atemnot so immens, dass er nur mit einem dicken Kissen im Rücken fast aufrecht sitzend die Nächte überstehen konnte. Zeitgleich setzten in den wenigen Stunden eines erschöpften Schlafes die erotischen Träume ein. Johannes waren diese Sequenzen zutiefst unangenehm. Er war von Kindesbeinen an fasziniert von der katholischen Kirche, und Begriffe wie „Reinheit und Ehre" waren ihm sehr wichtig. Immer wieder träumte er von erotischen Abenteuern. Während er hektisch aus einem erotischen Traum aufwachte, war es schon wieder passiert und er konnte nur seinen erschlafften Penis in der nassen Schlafanzughose betasten. Diese Ejakulation, die er Nacht für Nacht im Traum erlebte, war wie der Ausdruck seiner großen Sehnsucht, endlich wieder körperlich entspannen zu können. Der bereits lange bestehende Druck wies darauf hin, dass Verdrängung nur zu vermehrter innerer Anspannung führte und dass seine Sexualität eine offene und vertrauensvolle Beziehung erforderte, die er nie finden würde. Aber dieser Weg schien ihm aus religiöser Überzeugung und gleichzeitig durch sein entstelltes Äußeres versperrt. Wahrscheinlich hätte aus ihm ein fantasievoller Liebhaber werden können, wenn er sich seinen Ängsten und Zweifeln gestellt hätte.

Rein äußerlich hätte Johannes sich als weiteres Opfer von Carls Scherzen geeignet. Aber Carl hätte es nie gewagt, sich an Johannes zu vergreifen. Es kam sogar vor, dass er Johannes exzentrische Einfälle mit Wohlwollen oder sogar offen gezeigter Bewunderung bedachte. Johannes hatte unbestreitbar etwas Geniales an sich. Nachdem das Aloysiuskolleg in Opladen geschlossen wurde, wechselte der Katholik auf die Landrat-Lucas-Schule, die inzwischen in „Adolf-Hitler-Schule" umbenannt worden war. Den Nazis war es aufgefallen, wie stark die katholischen Gläubigen sich noch dem neuen Wind widersetzten und hatten sich eine Agenda zusammengestellt, um diesen Einfluss bleibend zu brechen. Als erstes wurde die katholische Jungenschule aufgelöst. Die katholische Mädchenschule, das Marianum wurde schrittweise immer härter werdenden Bedingungen ausgesetzt, bis die Schwestern 1942 den Betrieb aufgeben mussten. In seinen Bibelkreisen engagierte Johannes sich als moralisch rigoroser Freizeitleiter. Nichts war von dem hübschen katholischen Kind geblieben. Sein Gesicht blieb durch die vielen grobporigen Narben seiner Akne entstellt. Seine Triebe schien er besser im Griff zu haben. 

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now