2. Kapitel

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1945

„Hello soldiers!"  „Hello boy, do you want a chewing-gum?" „What's that?" „Here please!" Der kleine Junge schnappte das kleine Päckchen, schaute kurz dann doch auch misstrauisch herüber, bedankte sich und verschwand. Einige Menschen sprachen hier also schon Englisch und schienen sich mit den Alliierten zu arrangieren. Mrs. Roosevelt musste sofort daran denken, wie sie 1933 im Westen von Amerika unterwegs gewesen war. Sie war schon 48 Jahre alt und reiste durch die Vereinigten Staaten, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Die Wirtschaftskrise hatte verheerende Wirkung auf alle Bevölkerungsschichten und als Regierung würden sie den Menschen nur dann helfen, wenn sie einen realistischen Blick auf die Lage hätten.

Die Kinder spielten zwischen und auf den Trümmern. Schon Ende März 1945 hatte ein amerikanisches Kamerateam gefilmt, wie es sich vom Westen aus auf den Dom hin näherte, der deutlich sichtbar in der Ruinenstadt stand. Weder war der Zweite Weltkrieg noch war Deutschland von der menschenverachtenden Gewaltherrschaft befreit gewesen. Nun erlebten viele Deutsche die Amerikaner als eine Erlösung. „Unsere Angst hatte sich abgenutzt. Wir haben gar nichts mehr gefühlt", hatte eine Frau gesagt, die eine befreundete Journalistin interviewt hatte. Die Symbole der Diktatur wurden entsorgt, Hakenkreuze abmontiert und Fahnen verbrannt. Neben einer allgemeinen Orientierungslosigkeit waren auch Erleichterung und Hoffnung zu spüren.

Mrs. Roosevelt fragte sich, wie viele verlorene Seelen es in Köln gab. Menschen, die nicht damit zurecht kamen, die eigenen Kinder und Enkel überlebt zu haben. Frauen, die vergewaltigt worden waren. Menschen, die einen Arm oder ein Bein verloren hatten. Die Frauen trugen Kopftuch und jede hatte eine Aufgabe in dem großen Chaos. Das Echo der Bombennächte schien nur still nachzuwirken.

War der 16-Jährige, dem sie eben ins Gesicht geschaut hatte, nicht noch vor einige Wochen beim letzten Aufgebot der „SS-Nibelungen" dabei gewesen, um als Kanonenfutter gegen die Amerikaner geopfert zu werden? Alle, die nach 1928 geboren waren, hatten kaum Schulbildung genossen und mussten mit unzureichender militärischer Ausbildung die amerikanischen Spähtruppen mit Panzerfäusten angreifen. Die Kindersoldaten waren von klein auf darauf gedrillt worden, Adolf Hitler ewige Treue zu schwören. Die harte Ausbildung auf Vogelsang in der Eifel, als eine von drei NS-Ordensburgen,  hatte feste Feindbilder und konnte viele der jungen Burschen dann doch nicht auf ein Gesicht zielen, das ganz nah vor ihnen war. Auch beim Töten ist aller Anfang schwer.

Mrs. Roosevelt war sich immer der großen Gefahr bewusst, die vom deutschen Volk ausging. Dennoch wusste sie zu jeder Zeit, ihre persönlichen Ängste vor dieser menschenverachtenden Ideologie vom Schicksal der hungernden Menschen in den ausgebombten Städten zu trennen. Das Land war aufgeteilt in Besatzungszonen. In den amerikanischen Zonen hätten die Soldaten sie sicherlich aufgrund ihrer auffälligen Statur erkannt. Also beschloss sie, in die britische Besatzungszone nach Köln in die Rheinprovinz reisen, um sich dort unerkannt umzuschauen. Sie wollte wissen, wie es den Menschen in dem besiegten Land ging. Hatten sie genug zu essen? Wie konnte das Leben in Köln weitergehen? Die Stadt war zu 90 Prozent ausgebombt. Würden die Menschen wieder dort leben wollen? Viele Gebäude waren vollkommen zerstört. So viel Leid.

Zunächst war es eine fixe Idee gewesen, dass sie nach Deutschland wollte. Der Krieg war vorbei, es war dort nicht mehr gefährlich. Wie würden die Deutschen vor Ort mit der Situation umgehen? Kinder und Jugendliche, körperlich und seelisch schwer verletzt durch den Krieg. Ihr Leben lang waren sie der Nazi-Propaganda ausgesetzt und hatten in der Schule Rassenlehre gelernt. Mrs. Roosevelt hatte die letzten Jahre die Situation in Europa und vor allem in Deutschland täglich in den Nachrichten verfolgt. Durch das Amt ihres Mannes kam sie an alle Informationen und begegnete den unterschiedlichsten Menschen. Sie kannte die meisten Staatsoberhäupter. Dutzende Botschafter. Seit Jahren las sie politische Analysen, aber viel mehr interessierte es sie, wie lebten und dachten die Menschen in Deutschland? Wie würden sie mit den Veränderungen nach dem Krieg umgehen? Als sie von den Konzentrationslagern im Osten hörte, hatte sie schlaflose Nächte. Sie spürte, dass sie Hass auf die Deutschen empfand. Was war das für ein Volk, für ein Land, das so jegliche Menschlichkeit ablegte?

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now