16. Kapitel

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1940

Marlene hatte sich schon am frühen Morgen in Bergisch Neukirchen beim Bäcker Wirtz mit Wilhelmine und Paula verabredet. Wie mit der Gruppenleitung abgesprochen, kauften sie die bestellte Ladung Brote, Apfeltaschen und Streuselkuchen und verstauten alles sorgfältig in den Satteltaschen. Gemeinsam radelten sie zum Bahnhof. Dort hörten sie schon von Weitem die vielen anderen Mädchen in der Morgendämmerung. Sie waren ausgelassen. Sie eroberten sich ein eigenes Sechserabteil und Paula lief von Abteil zu Abteil und ließ kurz die anderen aufschrecken, wenn sie mit auffallender Stimme einen strengen Schaffner imitierte und rief: „Ihre Fahrkarte, bitte!"

Marlene fand Paulas Verhalten nervend. Sie nahm wieder ihre Gitarre auf den Schoß und fuhr mit dem Daumen über das Hakenkreuz. Erst gestern hatte sie es in den goldbraunen Lack ihres Instrumentes geritzt aus Vorfreude auf die Wanderfahrt. Und weil sie so davon beseelt gewesen war, dass sie die Hand des Führers berührt hatte. Die Mädchen hatten ganz vorne gestanden als das offene Auto mit dem Führer vorbeifuhr und Marlene war sich ganz sicher, seine Hand berührt zu haben. Die dunklen Zeiten der Nazizeit begannen und neben Hitler besuchten auch andere Parteigrößen Köln und das Rheinland als Bühne für massenwirksame Auftritte. Selbst Joseph Goebbels ließ sich hier feiern, obwohl er seine Heimat Köln als Jugendlicher verabscheut hatte.

Sie fuhren bis nach Bad Godesberg. Hier wohnten viele reiche Familien. Die Villen waren beeindruckend. Die Kleidung der Passanten unaufdringlich edel. Vom Bahnsteig aus wanderte die Mädchengruppe geradeaus auf der Rheinallee durch das Villenviertel bis zur Bastei am Rheinufer, wo Marlene eine erste Picknickpause für alle eingeplant hatte. Sie und die anderen vier eingeplanten Mädchen breiteten ihre Decken aus. Marlene hatte solche organisatorischen Grundlagen auf einer Fortbildung in Köln gelernt. Wie liefen diese Schulungen für jungen deutschen Mädchen genau ab? Marlene konnte sich noch sehr gut die schöne Villa am Oberländer Ufer 100 erinnern. Sie und Wilhelmine gehörten zur Abteilung der BdM Mittelrhein. In der Villa war bis 1934 ein Internat des Franziskanerordens heimisch, bis dann die neue Obergauschule eingerichtet wurde. In den großen und kleinen Tagungsräumen fanden Schulungen, Sing-, Bastel- und Freistunden statt und im Keller befand sich eine Küche und ein Speiseraum.

Während sie die Anordnungen weitergab und ihr alle folgten, fragte sie sich schon, ob die Schar junger Mädchen sich nicht auch ohne Anordnung auf die schöne Wiese gesetzt und Decken und Picknick heraus gekramt hätten. Marlene schaute von ihrem Platz am Baum gelehnt hinüber über den Rhein auf die grün-blau-grauen Hügel des Siebengebirges. Die Sonne schien zu allem Überfluss und die Lichtflecken tanzten durch die Baumkrone auf die Haut ihres nackten Fußes und das braune Hemd, das Marlene nicht wirklich gefiel, weil es so grob war und sich fast wie das Gewebe der Kartoffelsäcke anfühlte und auch so proletarisch roch.

Sie genoss die Landschaft und war tief ergriffen von ihrer unendlichen Vaterlandsliebe. Wie wunderschön ihr Deutschland, das deutsche Reich doch war. Das Deutsche Reich! Ein Ausdruck, der ihr besonders gefiel. Sehnsüchtig schaute sie den Rhein hinunter, wo nach dem Siebengebirge der schönste Rheinabschnitt begann. Sie dachte an die Lorelei und musste immer wieder tief durchatmen. Die Deutschen, das waren die Romantiker. Goethe, Schiller und Novalis. Sie bedauerte sehr, nicht ihren kleinen schwarzen Farbkasten mit den guten Aquarellfarben dabei zu haben, ihren wertvollen Pinsel und den Block mit dem reinen Baumwollpapier. Sie hatte solch eine Lust, eine Skizze anzufertigen, um diesen besonderen Moment festzuhalten. Die Stimme Goebbels und das Interview im Deutschen Rundfunk war ihr noch sehr präsent: „Als Sohn der rheinischen Erde habe ich das Bedürfnis, immer in einer lebendigen Beziehung zum rheinischen Volk und seinen wunderbaren Bergen, seiner anheimelnden Landschaft zu bleiben."

Sie riss das weiße Papier auf und biss in das Butterbrot mit Leberwurst. Wie widerlich. Sie war zu spät dran gewesen, weil sie erst einmal alles für die Gruppe organisiert haben wollte. Leberwurst verabscheute Marlene aus tiefstem Herzen. Grau, geschmacklos und ekelig. Der Ekel kam ihr auch hoch, wenn sie die so genannten „goldbraunen" Hemden sah. Warum musste sie alle in diesem furchtbaren Blusen herumlaufen? Vor allem im hellen Sonnenschein empfand sie diese Farbe als abscheulich, die zu allem Überdruss dann auch noch mit Schwarztönen kombiniert wurde. Dieses Missbehagen nervte sie. Überall standen die Mädchen im selben Braunton. Kleinere, größere, schmalere und kräftigere. Alle gleich und Marlene hatte den Eindruck, dass sie wenigstens kurz die Augen schließen musste, um nicht völlig von diesem Farbton überwältigt zu werden.

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now