10. Kapitel

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1939

„Imbach ist das perfekte NS-Musterdorf." Die Idee war ihr einfach so gekommen und es war eine großartige und unschlagbare Idee: Marlene hatte auf einem Abend gemeinsam mit ihren Mädchen in der Gruppe davon gelesen, wie schädlich Städte und wie gut das Landleben sei. „Köln ist aufregend", erklärte sie den Sechsjährigen, aber das Leben auf dem Land und ganz besonders in einem Dorf wie Imbach ist das Leben rein und unverdorben und deshalb machen wir am nächsten Samstag alle einen Ausflug nach Imbach. Wie Puppenhäuser standen die schwarz-weißen Fachwerkhäuser an der Dorfstraße und schon seit Jahrhunderten wuchsen dort hochgewachsene edle Birnbäume. Die wertvollen Birnen wurden bis nach England transportiert. Während auf den Wiesen auch Sauerkirschbäume und kleine Apfelbäume standen, wirkten die Birnbäume aufgrund ihrer Höhe edel und von vornehmen Wuchs. Jetzt waren sie gerade in der Blüte. Einige Wochen später hingen kleine harte, dunkelgrüne Birnen wie Spielfiguren an den Bäumen oder lagen auf der Straße. Später im Herbst wurden die prallen Früchte geerntet. Die unerreichbaren und überreifen Birnen landeten mit dem lauten Klatschen braun und schimmelig in den Wiesen oder auf der gepflasterten Straße.

„Unter der weiß gekalkten Oberfläche ist wie bei einem afrikanischen Haus nur Lehm", erklärte Marlene den Mädchen. In der Hand hielt sie ihr Geographiebuch, in dem afrikanische Häuser abgebildet waren. Sie hatte die kleine Schar extra zu einem baufällig Schuppen geführt, wo eine Wand in sich zusammengebrochen war. „Hier könnt ihr die dicken schwarz gestrichenen Holzbalken sehen, die alles wie einen Webrahmen zusammenhalten, und die miteinander verflochtenen Äste und Reben dienen als Halt auf dem der Lehm, der so stabil trocknen kann. Marlene war fasziniert von dieser natürlichen Bauweise. Sie würde sich wohl nie richtig wohl fühlen in Häusern aus Steinen. Sie liebte den Kontrast der schwarz-weißen Häuser vor den grünen Wiesen mit den hohen Birnbäumen und wie genial, dass just hier auch überall schwarz-weiße Kühe grünes Gras verzehrten, um es in weiße Milch zu verwandeln. Anschließend ging sie wie verabredet beim Bauer vorbei, der jedem Mädchen ein großes Glas frische Milch und einen Hefegebäck spendierte.

Marlene saß auf ihrem Bett und blickte auf die Kommode. Honigfarbenes Birnbaumholz. Weiches, wertvolles Holz. Die Kommode hatte schon immer in dem Zimmer der beiden Schwester gestanden, erst als Wickelkommode, später kamen das Spielzeug und die Schulsachen hinein. Das Zimmer hatte zwei Fenster. Die beiden sehr hohen schmalen Holzbetten standen so, dass die Kopfenden ein Fenster einrahmten.

Ihr Vater hatte abgewunken, als Marlene ihn in ein Gespräch verwickelt wollte. Er legte sich noch einmal kurz aufs Ohr, weil er abends beim Kartenspiel wach sein wollte. Marlene und ihr Vater waren in aller Frühe nach Solingen gefahren. Alleine konnte er das wegen seiner Seeschwäche nicht. Sie hatten gestern die vielen Messerschäfte zusammengepackt und brachten sie nun zur Solinger Klingenfabrik. Die reichen Industriellen wohnten in beeindruckend großen Villen. Am späten Nachmittag waren sie zurück in Imbach. Marlene fand hier die schwarzweißen Fachwerkhäuser viel schöner als die mit dunklem Schiefer verkleideten Häuser in Solingen. „Wenn wir als Dorfgemeinschaft gewinnen, bekommen wir vielleicht eine neue Wasserversorgung." Das machte die Männerrunde, die sich bei Himmelreichs in der guten Stube trafen, dann doch hellhörig. „Lasst die Finger weg von diesen bekloppten Blut-und-Boden-Ideologen", warnte der Bauer. „Aber warum sollen wir nicht von den Idioten profitieren? Wir sind vorzeigbar und wenn wir auch ein wenig vom Tourismus profitieren können, dann ist das doch nicht verkehrt." „Marlene, kümmere dich darum, dass alle Kinder und Jugendliche die Straßen fegen. Ich werde für den Bäcker, den Einkaufsladen und die Kneipe historische Ladenschilder gestalten. Wir putzen uns einfach ein wenig heraus. Das kann doch nicht verkehrt sein." „Berlin ist sich noch nicht einig über die Höhe der Förderungen, aber wir werden auf jeden Fall dabei sein! Und Bauern sind der Lebensquell der nordischen Rasse", fügte sie noch rasch hinzu, bevor ihr Vater sich laut räusperte und sie bat noch einige Flaschen Bier aus dem Keller zu holen. Imbach würde für sie immer der schönste Ort der Welt sein. Ihre Heimat. Das Dorf hatte für sie genau die richtige überschaubare Größe eines gemütlichen Nestes in der leicht hügeligen Landschaft in unmittelbarer Nähe zur Wupper, dem schmalen, dunklen, melancholische Fluss, der seine Stimmung in den sonnigen Rhein fließen ließ.

Die Bewerbung war tatsächlich eingereicht worden und das ganze Dorf wartete. Je mehr sich Marlene für Imbach einsetzte, desto merkwürdiger kam ihr das Leben in der Stadt vor. Zwar war sie fasziniert von der anonymen Großstadt von den vielen großen Häusern und der Straßenbahn. Gleichzeitig nahm sie aber auch die Gefahren der Großstadt war, von der erzählt wurde. Aber auf dem Land konnten sich alle frei bewegen. Die Menschen waren anständig und die Jungen und Mädchen liefen keine Gefahr, auf Abwege zu geraten.

„Habt ihr schon Neuigkeiten aus Berlin?", fragte Wilhelmine, die ins Zimmer der Schwester trat. Marlene nahm einen der kleinen brüchigen Steine in die Hand und fuhr mit dem Daumen über ihre raue Oberfläche. Sie sammelte Katzengold. Es war ihr Sinn für Schönheit. Marlene streichelte immer wieder über das polierte Holz der Kommode. Auf der Kommode standen eine Lampe und eine Vase mit einem Zweig blauer Hortensien. Außerdem lächelten ihr zwei getöpferte orange-türkis- grün glasierte Affen zu. Auch die ovale Dose mit passenden Deckel hatte sie dort aufgebaut. Der Deckel saß wackelig und hatte sich verzogen, aber dennoch war die Dose gelungen. Die Schwestern füllten sie regelmäßig mit Süßigkeiten. Als Marlene sich gerade ein Bonbon in den Mund schob, klingelte es. Sie rannte die steile Treppe herunter und wäre um ein Haar dabei hingefallen.„Habt ihr schon gehört? Imbach wird NS-Musterdorf!" „Großartig!" „Kommen Sie herein." Der Bauer des Dorfes, der eigentlich gegen die DAP, sich aber trotzdem für die Bewerbung stark gemacht hatte, trat ein. Marlenes Vater schüttelte ihm die Hand. „Wir treffen uns Samstag, um die Feierlichkeiten vorzubereiten und Marlene, du kommst bitte auch." Dann zogen die beiden Männer sich zurück, um mit einem Schnaps auf die gute Nachricht anzustoßen.

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now