22. Kapitel

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1939

„Wahrscheinlich brauchen Sie noch gar keinen Nachschub?" „Doch - wir haben immer noch Kundinnen, die Naturheilkunde der Chemie vorziehen", sagte der Apotheker. „Hallo Marlene!" Marlene konnte nicht antworten, damit hatte sie nun wirklich nicht in ihren kühnsten Träumen gerechnet: Carl stand vor ihr. Ihr Herz klopfte. Sie blickte nachdenklich aus dem Fenster. „Für mich bleibt das alles ein Wunder. Erst finde ich diesen hübschen Strauch mit den kugelförmigen rosafarbenen Blüten. Diese Pflanze hat zu mir gesprochen und mich gerufen. Dann zeichne ich sie ab und koloriere sie mit den Aquarellfarbe und du kommst dann mit dem Botanikbuch und der wunderschönen Bezeichnung „Valeriana officinalis! Luise, das ist doch ein geheimnisvolles Band, dass mich mit just dieser Pflanze so tief verbindet". „Marlene, du nervst. Komm wir packen einfach deine ganzen Tinkturen, die getrockneten Blüten und Rinden schön ein und fahren bei den Apotheken vorbei, ob uns jemand deine Produktion abkaufen will?"

Baldrian passte zum Charakter von Marlene. Valeriana-Menschen zeigen einen großen Intellekt, handeln grundsätzlich rational. Gefühle ändern sich von einem Augenblick zum nächsten, man fällt von einem Extrem ins andere; ausgelassene Heiterkeit schlägt um in maßlose Wut oder schwerste Traurigkeit. Bei aufsteigender Hitze fühlen sie sich dennoch innerlich unterkühlt. Es fehlt ihnen an innerem Gleichgewicht, körperliche Beschwerden treten sprunghaft auf, werden als ruckartig reißend und stechend beschrieben. Bei Sonnenbestrahlung kommt es zu heftigen Kopfschmerzen, die zu einer Eiseskälte im Kopf führen. Auf negative Erlebnisse oder Erwartungsdruck reagieren sie mit Herzklopfen, nervösem Erbrechen, Durchfällen oder trockenem Würgereiz mit reichlicher Speichelbildung.

„Weißt du, was wir danach machen? Wir gehen den Nachmittag auf den Obsthof von Schneider. Hat Leah von einem Verwalter oder so gesprochen? Sie sind alle so überstürzt abgereist und wahrscheinlich denkt keiner an die armen Kirschbäume, die voller überreifer Früchte hängen. Aber das ist doch nicht unser Eigentum, das können wir nicht machen". „Warum nicht? Sagte nicht schon Rousseau Eigentum ist Diebstahl? Die Schneiders sind nicht da und die Kirschen sind reif. Wir klauen Frau Schneider nicht ihre Perlenkette, sondern wir ernten einfach das mit der Arbeit unserer Hände ab, was die Natur auf ihrem Reichtum uns Menschen zur Verfügung stellt. Und wir stellen ihnen einfach einige fertig abgekochte Marmeladen- und Einmachgläser vor die Haustür, dann freuen sie sich bestimmt, wenn sie wieder zuhause sind", sagte Luise resolut.

Marlene hatte ein komisches Gefühl bei der Aktion, aber das war schnell vergessen, als sie vor den Bäumen standen. Die Kirschen schienen die kleinen Bäume zu erdrücken und auch schon die Vögel hatten die reiche Ernte für sich entdeckt. Marlene und Luise kochten an diesem Nachmittag bis spät in die Nacht 30 Einmachgläser und 60 Marmeladegläser ein. Zwischendurch fuhr Marlene schnell mit dem Rad nach Bergisch Neukirchen, um mehr Einmachzucker einzukaufen. Als sie im Dunklen nach Hause kamen, klebten sie überall und waren voller roter Kirschflecken. Luise legte ihre Kleidung in einen Eimer, den sie zum Einweichen im Keller versteckte. So stolz sie war, blieb trotzdem nach der Arbeit und reichen Beute ein merkwürdiges Gefühl und sie besprach mit Marlene, dass sie lieber nicht mit den Eltern über diesen Tag reden wollten. Die Gläser mit den eingemachten Kirschen oder der Marmelade verkauften sie bei verschiedenen kleinen Händlern in Leverkusen. Das Geld wurde gut versteckt unter den Süßigkeiten in der gemeinsamen Dose auf der Kommode.

Ja, da stand doch tatsächlich Carl, an die Türe zum Verkaufsraum der Apotheke gelehnt. „Ich habe schon von deinen Geschäften gehört." Gemeinsam gingen sie in das Labor der Apotheke. Carl nahm ihr die Jacke ab und Marlene stellte die drei Tüten mit den Baldrianwurzeln auf den Tisch. „Ich habe einige Stauden bei uns im Garten angepflanzt, weil mir die Blüten so gut gefielen und auch weil meine Mutter ein nervöses Leiden hat seit dem Tod meines Bruders." Carl schaute Marlene von der Seite an. Ihre unkonventionelle Art gefiel ihm.

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now