1942
„Lass uns dieses Wochenende endlich nach Zakopane fahren..." Wie anders er geworden war. Ihre gemeinsame Zeit in Krakau hatte so romantisch begonnen. Ein bisschen wie in einem Märchen mit vielen Küssen und Konzerten. Sie war zwar noch immer sehr verliebt in ihn, aber stellte sich auch viele Fragen.
Carl hatte mit einem Blumenstrauß in der Hand auf sie am Bahnhof in Krakau gewartet. Er war einer der wenigen deutschen Männer in Zivil. In einem Haus, wo auch andere junge Frauen aus Deutschland einquartiert waren, hatte er ihr ein hübsches Zimmer in der dritten Etage reservieren lassen. Eine hellblonde, kräftig gebaute Bayerin mit roten Wangen und klaren blauen Augen kam sofort die Treppe hinunter und nahm ihr den schweren Koffer ab. „Wir verwalten uns hier selber. Du bist erst einmal hier alleine untergebracht, aber wenn wir noch mehr werden, kann es sein, dass du noch eine Zimmernachbarin bekommst. Momentan wollen alle in den Osten und sie schaffen es gar nicht schnell genug, leere Häuser für all die jungen Frauen aus dem Westen zu organisieren." Marlene folgte Cäcilia und orientierte sich schnell in dem Haus mit dem ungewohnten Grundriss. Ein typisches Haus der Krakauer Altstadt. Im Innenhof gab es überall Holzveranden und Marlene schaute nach oben und winkte den Schwestern aus Trier zu, die es sich auf der dritten Etage mit zwei Stühlen und einem niedrigen Tisch gemütlich wie auf einem Balkon gemacht hatten.„Hoffentlich kochst du besser als die verwöhnten Hamburgerinnen." Die Frage nach der guten Küche erübrigte sich schon in den nächsten Tagen, weil polnische Frauen dazu abgeordnet wurden. Am Anfang gab es immer wieder Beschwerden, weil die Qualität zu wünschen ließ. Aber die jungen Frauen lernten schnell. Carl kam in den ersten Wochen jeden Abend bei ihr vorbei. Mit seinen guten Manieren und seiner Eleganz beeindruckte er alle. Er war gutaussehend. Die jungen Frauen in der Herberge verhielten sich sofort anders, wenn sie seinen Anwesenheit bemerkten.
„Guck einmal, was ich für dich aufgetrieben habe!" Cäcilia hielt Marlene einen dunklen Damenmantel hin mit einem hellen Pelzbesatz. Marlene zog ihn langsam an und hoffte, dass die Ärmel ihr nicht wie sonst üblich bei Konfektionsware zu kurz waren. Die Vorbesitzerin des Mantels musste genauso groß, athletisch und schmal um die Taille wie Marlene gewesen sein. Marlene liefen Tränen über die Wange, als sie sich selber ansah. „Die Dame in Hermelin", sagten die anderen, die um sie herumstanden.
In der ersten Zeit waren Carls Aufgaben noch nicht klar umrissen und er hatte zum ersten Mal viel Zeit für sie und kam sie jeden Tag abholen. Die Zeit gemeinsam mit ihm in der neuen Umgebung war unbeschwert und sehr herzlich. Carl schien wie befreit zu sein und ließ sich stundenlang mit Marlene durch die Altstadt treiben. Auch in der Woche verbrachten sie sehr viel Zeit miteinander. Jeden Abend gingen sie woanders essen.
Sie waren noch nie gemeinsam aus Krakau herausgefahren. Die Gegend um Zakopane war wunderschön und die Luftveränderung tat gut. „Ich mag es, so weit gucken zu können. Schau einmal, hinten die Bergreihe in den Blautönen... so weit würde ich gerne jeden Tag gucken können!". Er umarmte sie und gab ihr einen Kuss. „Marlene, gut, dass ich dir begegnet bin. Du bist so anders." Er ließ sie wieder schnell los und sie gingen weiter. „Carl?" Er drehte sich zu ihr um und schaute sie an. Sie nahm seine Hand. Dann schaute sie ihm prüfend in die Augen. „Was ist?" Sie atmete tief ein. Biss sich auf die Lippe und rieb sich kurz die Nase, räusperte sich und schluckte. Seit Tagen dachte sie an Heinrich, dem Carl vor vielen Jahren ein Beinchen gestellt hatte. Sie hatte diese Erinnerung ausgeklammert, als hätte sie nichts mit dem Carl zu tun, mit dem sie eine Liebesverhältnis eingegangen war. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser anderen Seite von ihm umgehen sollte. Sie waren zusammen vor einigen Monaten in eine neue Welt aufgebrochen. War er ein Sadist? Marlene erschrak vor sich selber, dass sie so über ihn denken konnte. Was verrat das über sie selber? Warum hatte niemand Carl deutliche Grenzen aufgezeigt? Es war kein Versehen. Er hatte Heinrich absichtlich fallen lassen. Marlene war diese Situation in den letzten Tagen immer wieder gedanklich durchgegangen. Heinrich war schwach und wehrte sich nicht. Aber warum hatte sie nicht den Mund aufgemacht? Es war eindeutig ein fieses Verhalten von ihm und dennoch hatte sie sich als Jugendliche in ihn verliebt und blieb auch danach in ihn verliebt? Dieser Akt empörte sie. Wenn sie isoliert nur an einzelne Auftritte von ihm dachte, lehnte sie sein sadistisches Verhalten ab. Was sie fasziniert hatte, war sein Aussehen, seine gute Noten und Sportlichkeit... und auch sein Charme. Was würde passieren, wenn sie ihn mit ihren unangenehmen Gefühlen ihm gegenüber konfrontieren würde?
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Eleanor Roosevelt in Imbach
Historical FictionLeverkusen 1945, die frisch verwitwete amerikanische First Lady Eleanor Roosevelt mietet sich incognito eine Unterkunft bei Marlene Himmelreich. Die 60-jährige Eleanor ist gerade Witwe geworden und weiß noch nicht so recht, wie ihr Leben ohne das We...