32. Kapitel

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1942

„Warum bist du einfach verschwunden?" Er sah überfordert und müde aus. Nach einer Tasse Kaffee, die sie ihm in der Küche holte, sah er wieder besser aus. Er hatte sich gewaschen und die Kleidung gewechselt. Für ihn handelte es sich um einen Routine-Eingriff. Er schrieb ihr eine Adresse einer Apotheke auf und steckte mehrere Geldscheine in einen weißen Umschlag. Das helle Weiß dieses Umschlages. Im Zimmer war es doch fast dunkel gewesen, aber der helle rechteckige Umschlag schien fast in der Abenddämmerung zu phosphoreszieren. Sie spürte nichts, als schließlich die Tür hinter ihm zufiel. Sie saß auf dem Bett und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er war weg und sie wollte ihn zurückrufen. Er konnte sie doch nicht so sang- und klanglos alleine zurücklassen. Sie kratzte sich mit dem linken Daumennagel die Fingerkuppe der rechte Hand auf.

Sie ging zu der Adresse, die er ihr mit seiner ordentlichen Schrift notiert hatte. Sie übergab den weißen Umschlag und wurde in den Hinterraum der Apotheke geführt. Dort sollte sie ein großes Glas mit einer weißlichen Lösung hinunterschlucken. Der Apotheker schärfte ihr ein, sich sofort in das Taxi zu setzen und nach Hause zu fahren. Anschließend wiederholte er mehrmals mit seinem starken polnischen Akzent„Stillschweigen". Er führte sie zum bereitstehenden Taxi. Der Taxifahrer wusste, wohin er fahren musste. Sie schaute aus dem Taxi auf das nächtliche Krakau. Die Lichter. Regentropfen auf dem Fensterglas schimmerten wie bunt marmorierte Keramikperlen vor einer schwarzen Samtvorhang. Carl und der Apotheker gingen mit dem Chinin ein Risiko ein, weil Frauen schon an der Aufnahme einer zu hohen Dosis gestorben war. Inzwischen konnte man aber ziemlich sicher einschätzen, wie viel Chinin notwendig war.

An einer Kreuzung musste der Taxifahrer kurz anhalten. Sie verspürte den inneren Drang auszusteigen. Sie wollte heute nicht alleine in ihrem Zimmer sein. Marlene ging durch die Altstadt von Krakau. Die Straßen waren dunkel. Es regnete seit Stunden. In der Manteltasche krallte sie eine zusammengeknüllte Papiertüte zusammen. Dunkler Asphalt, Steine. Das Licht aus den Kneipen fiel auf den schwarzen Boden und spiegelte sich auf den Pfützen und nassen Oberflächen. Marlene hatte riesige Angst davor, verrückt zu werden. Matthias, wo war bloß Matthias? Sie sah ihn an der Hand einer Frau. Er lief ihr hinterher. Mit einem Gewehr machte er Jagd auf sie. Das bildete sie sich alles nur ein. Was war bloß los mit ihr? Sie war doch völlig verrückt. Das konnte nicht sein. Weitergehen. Nur weitergehen. Schnell weitergehen. Anhalten ist gefährlich vor allem an dunklen ungeschützten Stellen. Die vielen Schüsse. Immer wieder Schüsse. Das laute Schreien.

Bloß weitergehen. Wieder Schüsse. Ihr kleiner geliebter Bruder Matthias, der zusammensackte und an der schwarzen Straßenecke wie ein Bündel liegen blieb. Wieder Schüsse. Nur wenige Meter entfernt, eine Frau, die Paula verblüffend ähnlich sah. „Paula?" Sie zielte auf dicht zusammengedrängte Frauen und Kinder. Dunkle Kleidung mit Judenstern. Sie war eine sehr gute Schützin. Ein Körper nach dem anderen fiel um. Nur ein kleiner Junge war geistesgegenwärtig genug und ihm gelang die Flucht. Verschwand in die dunklen Straßenfluchten. Lautes Fluchen. Hatte Marlene bis dahin noch Zweifel gehabt, ob sie halluzinierte, war sie plötzlich hellwach.

Es war purer Zufall, dass sie an diesem Abend den hässlichen Johannes traf. Er hatte sie wohl schon von Weitem erkannt und zog sie in die Kneipe hinein. „Marlene! Ich freue mich so, dich hier zu treffen. Wie lange bist du schon hier?" Sie versuchte Johannes nicht anzuschauen, damit ihr nicht wieder übel wurde. Seine Haut, seine kleinen Augen, die fettigen Haare und die Form seiner länglichen, fast weißen Hände widerten sie zutiefst an. „Du siehst schlecht aus, isst du genug?" Er wollte sie brüderlich am Oberarm berühren, aber sie wich seiner Berührung aus. „Bitte Wirsing mit Schweinshaxe. Aber schnell, meine Begleitung hat Hunger."

Johannes hatte unerwartet in der Backstube Wirtz gestanden, wo Marlene neben der Schule gearbeitet hatte. „Sie werden euren Bruder töten, kapiert ihr das nicht? Sie werden ihn einfach töten und ihr spielt das Spiel mit? Er ist euer Bruder. Ihr könnt doch nicht sehenden Auges euren Bruder den Mördern ausliefern". Marlene erinnerte sich daran, dass sie gerade dabei gewesen war, den Vanillepudding auf ein Blech zu gießen, damit er abkühlen konnte, bevor sie ihn auf die Plunderteilchen verteilen konnte.

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now