36. Kapitel

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2020

Seit Anfang des Jahres wohnten sie in Wien. Sie kannten sich schon seit über 20 Jahren. Hope hatte 1997 eines Tages neben ihm in der Schule gesessen. Als Jugendlicher fand Feynsinn Amerika nicht besonders toll und war mehr von Frankreich und Italien begeistert. Noch vor dem Abitur war er mit Freunden mit dem Interrail-Pass wochenlang in Europa unterwegs und die wilde Truppe wusste irgendwann gar nicht mehr, ob sie gerade in Amsterdam, Prag oder Sevilla im Zug saßen. Sie dachten nicht über Europa nach. Es war für sie selbstverständlich, dass überall mit demselben Geld bezahlt wurde. Natürlich war Feynsinn auch als Erasmus-Student für ein Jahr in Caen, in der französischen Normandie und später noch für ein halbes Jahr in Spanien. Es war normal, mal Englisch, mal Deutsch oder Französisch zu reden. Feynsinn fand es nur anstrengend, in einer Gruppe, mal Englisch oder Französisch zu reden. Da war er nicht so flexibel wie die anderen.

Nach Amerika zog es Feynsinn nicht. Das lag sicherlich auch daran, dass er sich irgendwann für ökologische Fragen interessierte und nicht mehr fliegen wollte. Außerdem hatte Amerikanerinnen blond gefärbte Haare mit Dauerwelle und waren irgendwie kitschig. Sie tranken während ihre Austauschjahres viel Alkohol und hatten keine Ahnung von Geschichte. Hope war das erste Mädchen, mit dem Feynsinn stundenlang reden konnte ohne sich zu langweilen. Irgendwann war das Austauschjahr vorbei. Feynsinn musste für das Abitur pauken. Sie verloren sich aus den Augen wie es damals ohne Internet und nur mit einer Adresse auf einem Papierzettel geschrieben, so war.

Hope half Feynsinn, die vielen Kisten, die er mitgebracht hatte, im Keller unterzubringen. Die alte Reiseschreibmaschine und die Pappschachtel nahmen sie mit nach oben ins Wohnzimmer. Er öffnete die staubige Schachtel und zeigte ihr die vielen Seiten, die jemand sorgfältig mit Notizen beschrieben hatte. Er legte den Stapel auf den Sofatisch. Der andere Papierstapel war mit Schreibmaschine getippt worden. Unten in der Pappschachtel lag ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Es schien uns mit aller Wucht in eine längst vergangene Gegenwart zu werfen. Die beiden Frauen sahen aus wie Mutter und Tochter.

Als Feynsinn 2015 Hopes Nachricht las, hatte er gerade den Koffer von Eleanor Roosevelt gefunden. Erst hatte er es selber nicht glauben können, dass die Fotos und Notizen im Keller seiner Großeltern tatsächlich von einer so bekannten Persönlichkeit sein sollten.

„In Schutt und Asche und in der Einsamkeit völliger Zerstörung lehnt Köln bar jeder Gestalt und schmucklos an seinem Flussufer.", las Feynsinn den ersten Satz auf Deutsch vor. „Und wer hat das Manuskript geschrieben?", fragte Hope. „Ich gehe davon aus, dass Eleanor Roosevelt, die damalige First Lady der Vereinigten Staaten, 1945 einige Wochen bei meiner Oma wohnte und sich umfangreichen Notizen gemacht hat, die sie dann zurückließ." Hope schwieg und schaute Feynsinn an, als wäre er nicht mehr zurechnungsfähig oder als hätte sie ihn nicht verstanden. Feysninn wiederholte seine Worte noch einmal langsam auf Englisch. Die ehemalige First Lady hatte unbemerkt von der Öffentlichkeit einige Wochen in Kuebart, einem kleinen Dorf bei Leverkusen, verbracht hat, um sich selber ein Bild von Deutschland im Jahr 1945 zu machen." Warum sie überstürzt abgereist ist und alle Notizen zum Leben meiner Großmutter Marlene Himmelreich, aber auch private Fotos hinterließ, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. Sie hat wahrscheinlich sofort einschätzen können, wie viel Arbeit auf sie als US-Delegierte der Vereinten Nationen zukommen wird. Oder es gab andere Gründe, warum sie das Projekt über die Rolle einer deutschen jungen Frau im Dritten Reich zu schreiben, nicht vollendete.

„Du solltest aus den Notizen einen Roman machen." Hope blätterte in einer alte englischsprachige Ausgabe vom Dschungelbuch. „Es kommt mir komisch vor, aus den Aufzeichnungen anderer meine Geschichte zu machen". „Vielleicht müssen manche Geschichten immer wieder neu erzählt werden von Generation zu Generation. Erzähl deine eigene Geschichte so, wie du bist. Im Schreiben bist frei, alles so zu gestalten, wie es dir richtig erscheint. Sei ein Träumer, ein Chaot und verzettele dich und sei dir sicher, dass der Leser auch deine Sprünge und Brüche verstehen wird. Es reicht, wenn du einen Menschen mit dem, was du geschrieben hast, erreichst."

Eleanor Roosevelt in ImbachWhere stories live. Discover now